Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
nötigen Schutz vor blöden Sprüchen wegen meines Alters.
Die Breakers bestanden vor allem aus Ausländern: Türken, Jugoslawen, Portugiesen. Daneben gab es eine Reihe von Deutschen. Aber es ging nicht um die Herkunft. Man definierte sich allein über die Zugehörigkeit zu einer Gang, die zu einem bestimmten Stadtviertel gehörte. Es ging um den Kiez oder die Straße, in der man wohnte. Die Gangs gaben denjenigen Identität und Heimat, die sich sonst nirgendwo zugehörig fühlten. Wir waren alles recht verwahrloste Jungs. Nicht in dem Sinn, dass wir asoziale Penner waren. Wir waren nur alles Jungs, die mehr oder weniger auf der Straße aufgewachsen waren, weil wir uns zu Hause nicht wohl fühlten, weil unser Zuhause eher ein Schlachtfeld war, weil wir keinen Platz in der kleinen Welt hatten, die uns umgab. Eine Gang aber war genau dieser Platz. In der Gang fühlte man sich stark. Das machte sie für uns so interessant und wichtig. Ich mochte die Türken und Jugos von Anfang an, ihr starkes Gefühl für Freundschaft, ihre Lässigkeit und ihr ausgeprägtes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Anders als der typische Deutsche, der mir damals engstirnig und stumpf vorkam, waren diese Jungs keine Arschlöcher, keine egoistischen Einzelgänger. Deswegen war ich froh, in der Gang mit Leuten aus anderen Kulturen abzuhängen. Die sollten mich bloß nicht mit den Deutschen allein lassen!
Unsere Gang hatte natürlich ein Vorbild. Straßenbanden und Gangs gab es in den US-amerikanischen Städten ja schon immer. Sie entstanden in den Slums und in den Ghettos, und sie waren so etwas wie das Auffangbecken für die, die den amerikanischen Traum ausgeträumt hatten: Einwanderer, Schwarze, Schattengestalten, die Verlierer und Vergessenen der Gesellschaft. Der Film »The Warriors« aber bedeutete einen neuen Stimulus für die Gangs, die sich in den USA Ende der Siebziger in den Städten breitmachten. Der Film aus dem Jahr 1979 – in den USA ein mäßiger Erfolg, in Deutschland bis heute nicht sonderlich bekannt – ist inzwischen Kult. Er bot das Grundmuster für das Phänomen der Gangs, das in den Achtzigern auch in Hamburg, Berlin oder Frankfurt zu beobachten war.
Die Handlung ist schnell erzählt. New York: Die Stadt wird von Hunderten Gangs beherrscht, die alle einen gemeinsamen Gegner haben – die Polizei. Der Anführer der »Riffs« will die Gangs vereinen, zu einer »Armee der Nacht«. Er ruft eine Versammlung ein. Bei der wird er von einem Mitglied der »Rogues« hinterrücks erschossen. Der Mörder ist der Anführer der Rogues: Luther (was natürlich an Martin Luther King erinnern soll; Luther als Symbol für die dunkle Seite des Traumes, von dem Luther King 1963 vor dem Lincoln Memorial gesprochen hat). Luther beschuldigt die Warriors des Mordes und fordert, dass man ihm den Mörder tot oder lebendig bringen solle. Die Warriors müssen sich von da an gegen Polizisten und andere Banden behaupten. Sie müssen sich den Weg durch die nächtliche Stadt zu ihrem Stammrevier erkämpfen. Die Welt scheint sich gegen sie verschworen zu haben. So romantisch das alles klingt, es war genau die Weltsicht, die wir als Jungs auf St. Pauli hatten: wir gegen den Rest der Welt. Nur gemeinsam konnten wir es schaffen, nur als Gang.
Bei den Breakers gab es alle möglichen Leute, vom Arbeitslosen bis zum Abiturienten. Selbst ein paar Frauen gab es. Sie waren natürlich häufig der Grund für Konflikte untereinander oder mit anderen Gangs. Was uns alle verband, war der Glaube daran, dass wir Underdogs waren, die sich behaupten mussten. Die Gang war unsere Ersatzfamilie. Denn ein echtes Zuhause gab es nicht. Computer und Spielkonsolen, hinter denen man sich hätte verschanzen konnte, waren damals noch nicht so verbreitet. Die Gangs waren eine Welt, die wir bestimmen und beleben konnten – nach unseren Vorstellungen und Regeln. Der Rest der Welt war von Eltern, Lehrern, von Erwachsenen bestimmt und kontrolliert. Zu Hause und in der Schule wurde man ständig beurteilt, beäugt und kategorisiert hinsichtlich Leistung und Benehmen. In den Gangs konnten wir so sein, wie wir waren, wir konnten uns entfalten. Dort konnten wir uns über alles unterhalten, was uns interessierte.
Wer trifft sich heute noch täglich mit einem Freund und redet über die Dinge, die ihm am Herzen liegen? Wer hat in einer Freundschaft noch vorurteilsfreies Vertrauen und ist nicht von hohen Erwartungen belastet? Die besten Freunde sind manchmal gar nicht so fern, ohne
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