Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
konnte, wenn es eine Schlägerei gab.
Andererseits hatten wir sehr viel Spaß zusammen. Wir inspirierten uns gegenseitig, vielleicht weil wir aus derart verschiedenen Leben kamen. Im Kino sahen wir zusammen »E.T. – Der Außerirdische«. Der Soundtrack von John Williams haute mich um und brachte mich zur klassischen Musik. Bei Wladimir führte die Faszination dazu, dass er Klavier zu lernen begann, was seine Eltern natürlich unterstützten. Als ich den Wunsch äußerte, Klavier spielen zu lernen, lachten mich meine Eltern aus.
Ich verbrachte viel Zeit in Wladimirs Kommune im Schanzenviertel. So kam ich in Berührung mit einer sehr politischen Welt, die nichts mit dem Milieu zu tun hatte, in dem ich groß geworden war. Da Wladimir kein eigenes Zimmer hatte, hingen wir meist auf der Straße rum. Nachts, wenn Kommunarde Manfred auf seiner Freundin Barbara zuckende Bewegungen wie ein Kaninchen machte, tat Wladimir so, als würde er schlafen. Erst als die ganze Kommune in eine Wohnung hinter dem Schlachthof im Schanzenviertel zog, bekam Wladimir sein eigenes Reich. Auch ich konnte dort wohnen, wenn es zu Hause mal wieder sehr schräg zuging. Seitdem ich auf Demos ging und politisches Zeugs redete, stieg zu Hause das Konfliktpotenzial. Meiner Mutter und Kalle passte mein neues, politisches Leben überhaupt nicht. In ihrer Welt drehte man manchmal zwar krumme Dinger, aber man lebte politisch unauffällig.
Sechs bis acht Genossen lebten in der Kommune. Jeder hatte sein eigenes Zimmer, und es gab einen Gemeinschaftsraum. Es waren häufig Leute aus anderen Städten zu Besuch. Die Szene war gut vernetzt. Ständig wurden Debatten geführt, die bestimmt waren von der Devise: »Schweigen ist Silber, Reden ist Gold«. Es ging um Demos, um den Kapitalismus, die unterdrückten Völker, die Sowjetunion, um den Imperialismus der Amerikaner und natürlich die RAF. Für mich war das aufregend und neu. Auf St. Pauli war die Politik fern. Hier aber war ich mittendrin. Und sie war nicht so langweilig, wie ich es mir vorgestellt hatte. Durch die Kommune wurde ich zwar nicht zum strammen Linken, aber ich lernte noch mehr Fremdwörter, mit denen ich meine Mutter zur Weißglut bringen konnte. »Ich differenziere da sehr genau«, wenn sie mich etwas fragte, meine Pauschalantwort, oder: »Wir sind da wohl klassisch in zwei Fraktionen gespalten, ich kann deine fundamentalistische Denkweise nicht unterstützen«, wenn ich nicht ihrer Meinung war, oder: »Du musst das bitte konkretisieren und explizit deine Intentionen schildern«. Meine Mutter fand das überhaupt nicht komisch. Ich hingegen lernte, eine kritische Haltung zu entwickeln, Dinge zu hinterfragen, das Gegebene nicht als selbstverständlich zu akzeptieren und dass man etwas erreichen kann, wenn man daran glaubt. Die Zeit mit Wladimir und seinen Eltern bedeutete für mich die große, weite Welt. Sie holten mich das erste Mal aus St. Pauli und zeigten mir neue Perspektiven. Für diese Aufklärung bin ich ihnen noch heute dankbar. Für Wladimirs Eltern galt ich – obwohl aus St. Pauli – als guter Einfluss für ihren Sohn. Ich trieb Sport, rauchte nicht (im Gegensatz zur Kommune, die ständig in einer dichten Tabakwolke lebte), trank nicht und nahm keine Drogen. Für Barbara und Manfred war ich anfangs vor allem der heimatlose Kung-Fu-Junge aus St. Pauli. Barbara war der Meinung, dass ich mit meinen Kampfkünsten eine willkommene Bereicherung für jede Demo sei. Um die Bullen zu attackieren. »Da darfst du dein Können mal richtig ausprobieren«, sagte sie. Das fand ich natürlich geil. Ich wollte ja ein harter Kämpfer werden.
Das war ständig Thema in der Kommune: wie man die Bullen fertigmachen konnte, wie man sich besser verteidigen konnte. Auf den Demos ging es nicht zimperlich zu. Der Hass, den sich Polizisten und Demonstranten damals entgegenschleuderten, war extrem. Viele gingen mit Platzwunden und Prellungen nach Hause. Parolen schreien, Ketten bilden, schauen, dass dein Nebenmann und Genosse nicht verhaftet wird, notfalls zuschlagen. Mit Rohren, Knüppeln, mit allem, was gerade zur Hand war. Steine werfen oder mit Zwillen schießen. Das war völlig normal. Entweder dachte man nicht drüber nach, dass man jemanden töten konnte, oder es war einem egal.
Ich liebte die Action und das Abenteuer der Demonstrationen. Aber es schockierte mich auch. Manchmal lag ich abends im Bett und dachte an diejenigen, die ordentlich verprügelt worden waren. An den aufgestauten Hass
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