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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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mit auf eine Demonstration. Auf eine Demonstration! So was kannte ich nur aus dem Fernsehen. Es war eine Demo gegen Nazis. Das klingt jetzt sehr bescheuert: Aber ich wusste damals noch nicht, was Nazis sind. Den Begriff hörte ich zum ersten Mal. Zu Hause hatte ich ihn nie aufgeschnappt, und in Geschichte waren wir noch nicht bis zum Nationalsozialismus vorgedrungen. Glaube ich zumindest. Ich war ja aber auch nicht allzu häufig da.
    »Du hast noch nie von Nazis gehört?« Wladimir schaute mich mit einem prüfenden Blick an. »Nee!« Ich schüttelte den Kopf. »Das sind die Vollidioten. Die Vollwichser! Die totalen Arschlöcher.« Nun wusste ich Bescheid. Gegen Vollidioten und Arschlöcher war ich natürlich auch. Ich war also bereit für meine erste Demo. Bereit für den Kampf.
    Es war ein sonniger Tag, als wir durch das Schanzenviertel demonstrierten. Die Schanze, ein Quartier zwischen St. Pauli und Elmsbüttel, war Sammelbecken der Linken. Dreitausend waren zu der Demo gekommen. Rote Flaggen wehten. Die Leute schrien Parolen und sangen Lieder. Das machte alles einen großen Eindruck auf mich. Ich fühlte mich stark, wie sonst nur in meiner Gang. Ich hielt mich für einen gefährlichen Staatsfeind, der das System stürzen und die Macht übernehmen würde. Eine der vielen Träumereien, für die ich ja anfällig war. Die einzige Folge der Demo war, dass ich mir meinen ersten Fußpilz zuzog. Denn in guter Kommunistenmanier war ich barfuß gelaufen.
    Die Achtziger waren die Zeit der linken Demonstrationen. Mit Wladimir, seinen Eltern und den Genossen aus der Kommune ging ich ständig auf irgendwelche Demos. Mal ging es um die Hafenstraße, die seit 1981 besetzt war. Dann wieder gegen das Kernkraftwerk Brokdorf, wohin wir im Konvoi zogen. Später waren wir auch beim berüchtigten Hamburger Kessel dabei, als am 8. Juni 1986 rund 800 Demonstranten von der Polizei auf dem Heiligengeistfeld dreizehn Stunden lang festgehalten wurden.
    Mit Wladimir genoss ich aber auch die sonnigen und die regnerischen Vormittage. Wir schwänzten die Schule, so wie es uns passte. Wenn wir nicht gerade irgendwo abhingen, klauten wir Süßigkeiten, Limo, Kleinzeugs. Wladimir war ein Meisterdieb. Kein Supermarkt war vor ihm sicher. Und weil er ein anständiger Kommunist war, teilte er das Diebesgut mit mir. In vielerlei Hinsicht war Wladimir ein Angsthase, vor allem, wenn es um Hauereien ging. Aber beim Klauen war er an vorderster Front mit dabei. Da zeigte er einen ausgesprochenen Mut. Dadurch lernte ich, dass jeder Freund seine eigenen Stärken und Schwächen hatte – von denen ich lernen konnte oder von denen ich eher Abstand halten sollte.
    An einem Frühlingstag – die Hamburger Sonne brannte auf unsere Köpfe, und wir waren mal wieder sehr lässig unterwegs – spazierten wir die Mönckenbergstraße entlang, als sich uns drei Jungs in den Weg stellten. Wladimir machte einen Schritt zurück. Ich aber war nicht gewillt, auch nur einen Zentimeter zu weichen. Mit festem Blick sah ich den Größten der drei an. »WAS?!«, sagte der laut. »Hab bloß Respekt!«, wollte er damit sagen. Also antwortete ich noch viel lauter: »WAS???« – »Ich hab keine Angst vor dir!«, sagte ich damit. Urplötzlich waren wir von zwanzig Jungs umzingelt, eine ganze Gang. Keine Ahnung, wo die so schnell hergekommen war. Ich weiß nicht, was das für eine Gang war. Aber ein paar der Typen hatte ich schon mal auf dem DOM gesehen. Wladimir war plötzlich verschwunden. War er geflüchtet? Mich trafen Tritte und Schläge. Das Übliche, um jemanden zu verängstigen und unter Druck zu setzen. Der Anführer, ein athletischer Typ mit dunklen Haaren, rief seine Jungs zur Räson. »Lasst den Penner in Ruhe!« Mittlerweile war ich wohl von über fünfzig Jungs eingekreist. Da erst sah ich Wladimir wieder. Er stand mitten im Pulk, sah mich mit leeren Augen an – als wäre er auf einem anderen Planeten.
    Ich hatte Glück. Sie ließen mich ziehen. Nur mit ein paar Schrammen war ich davongekommen. Der Moment aber, als Wladimir vollkommen unbeteiligt dagestanden und mich angestiert hatte wie ein Zombie, der hat sich mir eingebrannt. Wenn ich an diesen Moment denke, muss ich immer etwas schmunzeln, weil es so absurd war. Ich, eingekesselt, kurz vor der Schlachtbank, und Wladimir, der sich innerlich auf den Mond gebeamt hatte. Grandios! Auch wenn ich ihm das niemals übelgenommen habe – von diesem Moment an war mir klar, dass ich mich auf Wladimir nicht verlassen

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