Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
weg. Doch er hatte mir ein Geschenk hinterlassen: die Leidenschaft für Prostituierte. Von nun an ging ich so oft wie möglich zu ihnen. Es war nicht nur der Sex, der mich zu ihnen trieb. Mir gefiel ihre Melancholie, die meiner so ähnlich zu sein schien. Was ich damals nicht verstand, das weiß ich heute: Melancholie entsteht aus unerfüllter Sehnsucht. Es waren weise Frauen, diese Nutten. Sie waren das Herz und die Seele von St. Pauli.
11 Pimmel im Anker
M ännlichkeit bedeutete für uns, dass man die Dinge aus Überzeugung tat, dass man sich nicht unterkriegen ließ vom Spiel des Lebens, das man gern und zünftig spielte, auch wenn es schon mal drei Tage regnete. Wenn ich tagsüber über die Meile spazierte, sah ich häufig die berühmten Luden: Hentschel, Lamborghini-Klaus, Karate Tommy, den Wiener-Peter oder Kalle. Manchmal beobachtete ich sie dabei, wie sie allein durch die Gegend spazierten oder allein einen Drink nahmen. Es kam selten vor, dass sie nicht in Begleitung waren, aber es kam vor. Dabei machte ich eine interessante Entdeckung. Wenn die Luden sich unbeobachtet fühlten, wenn sie nicht im Rampenlicht standen, dann sahen sie irgendwie traurig und einsam aus. Die Blicke der Luden schienen müde und leer. Ihr Lachen, ihr Strahlen waren verschwunden, auch diese Lässigkeit, die ich so sehr an ihnen bewunderte. Ich dachte mir damals nichts weiter dabei, schließlich war jeder mal allein, und jeder war mal traurig – auch die Luden. Doch sobald sie merkten, dass jemand sie ansah, begann die Show aufs Neue: das Strahlen, das Lachen, die Lässigkeit.
Pimmel war kein großer Lude. Aber auch Pimmel wusste, wie man eine Show abzog. Nicht nur, wenn er besoffen allen seinen Schwanz zeigte. Einmal fuhr er mit einer richtigen Kutsche auf den Großneumarkt. Er trug einen fetten Pelz und einen auffälligen Hut. Er hielt vor seiner Kneipe, dem »Anker«, und genehmigte sich ein paar Getränke, zusammen mit seiner Frau. Pimmel hatte ein oder zwei Frauen laufen, und er hatte den Anker. Wir lungerten ab und an dort herum, aber nur um eine Cola zu trinken oder ’nen Groschen in die Jukebox zu werfen.
Eines Tages kam ein Südländer in den Anker, stellte sich an die Bar und meinte: »Wer ist der Chef? Ich will die Chef sprechen!«
Pimmel stand neben ihm und fragte höflich: »Was kann der Chef denn für dich tun?«
»Müssen unter vier Augen sprechen mit Chef«, entgegnete der Südländer.
Ich wusste: Das gibt Ärger. Aber ich machte mir keine Sorgen. Pimmel, so klein er auch war, so schmal er war, er strahlte absolute Männlichkeit, absolute Souveränität aus.
Ganz ruhig sagte er: »Wir reden doch gerade unter vier Augen. Oder möchtest du mit mir kuscheln?«
Der Typ bekam sofort einen roten Kopf. Der Barmann stand wie angewurzelt hinter seinem Tresen und wagte nicht mehr zu atmen. Ich saß an meinem Tisch und beobachtete die Szene. Außer mir war niemand in der Kneipe.
Pimmel war Herr der Lage. Er ließ sich nichts anmerken, lächelte, strahlte Ruhe aus. Das ist der Unterschied zwischen einem richtigen Mann und einem Waschlappen, dachte ich. Ich war gespannt, was als Nächstes passieren würde. Ich kam mir vor wie im Kino. Der Südländer war kräftig gebaut. Er war einen Kopf größer als Pimmel und sicherlich zwanzig Kilo schwerer. Aber Pimmels Lächeln und seine ruhige Art schienen ihn zusehends zu verunsichern. Er blickte sich nervös um.
»Du gibs mir Geld«, sagte er schließlich. »Verstanden? Jeden Woche ich komm vorbei und du zahlst. Du gib mir.«
»Ach so!«, raunte Pimmel ganz ruhig. »Du willst nur ’n bisschen Geld. Wie viel soll ich dir denn geben?«
Der Südländer stand vor Pimmel und bäumte sich auf. »Mach nicht Maul so weit auf, sonst bring ich dich um, alter Mann!«
Ich weiß nicht, wie lange die Szene dauerte. Ich nuckelte an meinem Strohhalm und trank mittlerweile die Luft aus der Flasche. Gebannt starrte ich auf das ungleiche Paar. Plötzlich packte Pimmel den Typen am Kragen. Gleichzeitig zog er eine Pistole aus seinem Mantel. Der Barmann lief zur Tür und machte sie zu, als habe er solch eine Szene schon mehrmals erlebt. Pimmel war für mich in diesem Moment der absolute Held. Das war männlich. Etwas zu tun und dabei volles Risiko einzugehen, egal was kam. Man musste sein Ding durchziehen.
Der Südländer wurde blass.
»Leg dich auf den Bauch, du Schwachnase«, befahl Pimmel. Dann blickte er zu mir hinüber. »Na, Michel! Angst gehabt? Jetzt mach ma kurz die Ohren
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