Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
durch die Straßen und wusste nicht, wohin mit all den Gefühlen, die mich durchströmten. Was für ein beschissener Tag! Zwei Typen kamen mir entgegen. Sie gingen mir nicht aus dem Weg. Sie fixierten mich. Ich war voller Adrenalin, voller Verwirrung, außer Kontrolle. Ich schoss dem Größeren eine. Es klatschte. Es war dieses Geräusch, auf das wir hin trainierten. Wenn Kiefer aufeinanderkrachten, Knochen brachen. Das war Musik für uns. Er fiel, stand wieder auf. Die beiden starrten mich an und ergriffen die Flucht. Ich war auf 180. »Habt ihr Angst, ihr Fotzen? Habt ihr Angst?« Ich schrie und schrie – stand allein in dieser Straße, um mich herum nur die Dunkelheit.
Was war aus mir nur geworden? Eben hatte ich Fritz noch verdammt, nun hatte ich selbst die Kontrolle verloren. Dieser Typ hatte mir doch nichts getan. Gut, er war etwas übermütig gewesen. Aber ich hätte ihm auch aus dem Weg gehen können. Ich hätte ihn lächelnd ignorieren können. Doch es schien etwas zu geben, dass mich mehr und mehr im Griff hatte.
In den nächsten Wochen begann ich, meine Freunde aufmerksam zu beobachten. Ich wollte sehen, wie sie ticken. Ich schaute mir die Schläger auf dem Kiez an. Viele von ihnen schienen sich selbst zu hassen. Sie versuchten ihren Kummer im Alkohol zu ertränken, sie nahmen Drogen, sie schlugen Frauen. Nirgends sah ich die Gelassenheit, für die ich Jean-Paul Belmondo so sehr bewunderte. Wer waren diese Typen überhaupt? Außerhalb von St. Pauli? Ich wollte raus aus dieser Welt. Ich musste einen anderen Weg gehen, zur Not alleine. Was ich immer schon geahnt hatte, war nach dem brutalen Ausbruch von Fritz zur Gewissheit geworden: Ich wollte nicht mehr nur ein König im Kiez werden.
Ob es das Schicksal so wollte? Es konnte kein Zufall sein, dass ich ausgerechnet jetzt Mehmet traf. Ein älterer Türke, den ich von früher kannte und der wegen Totschlags im Gefängnis gesessen hatte. Mehmet war nur noch ein Schatten seiner selbst, ausgemergelt, zittrig. »Michel! Mach keinen Scheiß. Das ist es nicht wert. Ehrlich. Mach was aus deinem Leben. Nimm die Schule ernst. Ich habe im Knast viel nachgedacht. Es lohnt sich.«
Auch wenn ich es zu dieser Zeit noch nicht wusste, aber allmählich wuchs in mir die Ahnung, dass das Leben so viel mehr sein konnte. Es war nicht damit getan, durch die Straßen von St. Pauli zu laufen und den Macker zu markieren. Ich fing an, über die Zukunft nachzudenken. Es waren die ersten Schritte auf der Suche nach dem, was ich wirklich sein wollte. Aber noch war ich ein Halbstarker, der die Luden bewunderte und davon träumte, jemand zu werden, den man auf St. Pauli kannte und respektierte.
17 Wer hat Angst vor Zuhältern?!
W ieder einmal saß ich mit ein paar Jungs vor der Aula meiner geliebten Schule und überlegte, ob der Tag nicht doch eine interessantere Wendung nehmen könnte – wenn ich auf den Sportunterricht verzichten würde. Das laue Frühlingswetter kitzelte meine Nase und pumpte ganze Schwärme von Glücksgefühlen durch meine Venen. Ich wollte lieber durchs Leben rennen als durch die stickige Turnhalle. Meine Entscheidung stand fest: Ein Tag in der Schule war ein verlorener Tag. An der Einstellung hatte sich all die Jahre nichts geändert.
Auch Claudia saß in der Runde. Ich blickte sie sehnsüchtig an – wie immer. Aber sie hatte keine Augen für mich. Stattdessen war sie mal wieder mit irgendeinem Kieztypen zusammen, einer großen Nummer, kein kleiner Fisch, wie ich einer war. Kürzlich hatte ich erfahren, dass sie keine Jungfrau mehr war. Sie hatte mit diesem älteren Typen das verdammte Spiel der Erwachsenen durchgezogen. Sie war vierzehn. Immerhin ein Jahr älter als meine Mutter, als sie das Spiel gespielt hatte. Die ganze Schule wusste es. Claudia selbst hatte dafür gesorgt.
Ich beobachtete jede ihrer Bewegungen, noch die kleinste, als sie plötzlich eine Mütze aus ihrer Tasche zog – eine Wollmütze von Lacoste! Damals absolut in Mode.
»Goil«, schoss es mir aus dem Mund. »So eine wollte ich schon immer mal haben.«
»Echt? Willst du die haben?«
Claudia wedelte mit der Mütze vor meiner Nase herum und sah mir dabei tief in die Augen. Es war dieser Blick, den ich kannte, seit sie sich meinen Schlitten ausgeborgt hatte. Ich starrte nur ungläubig zurück. Wie ein dummer kleiner Hund kam ich mir vor. Meinte sie das Angebot ernst?
»Klar, will ich die«, sagte ich mit fester Stimme, um Haltung bemüht. Ich hätte erwartet, dass sie loslachen
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