Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
allmählich seinen Ernst spüren; das Milieu streckte die Hand aus und hieß uns willkommen. Die Breakers lösten sich auf. Es war 1984. Die meisten schlossen sich den Champs an. So auch ich. Die Champs waren bekannt. Mitte der Achtziger produzierte der NDR sogar eine dreiteilige Doku über uns. Der Titel: »Wild in den Straßen«. Mich hatte nie jemand gefragt, ob ich ein Champ werden wollte, ich war einfach irgendwann einer: ein Champ!
Die Gang, meine Freunde, das Training, die Mädchen; das war es, worum sich mein Leben drehte. Die Jugenddisko Schilleroper, die Motte, das Jugendzentrum Osterstraße und die Königstraße; das waren unsere Orte. Nach dem Kampftraining bei Dacascos in Bahrenfeld fuhren wir häufig in die Königstraße und schauten den Mädels beim Aerobic zu. Durchs Fenster. Ganz verstohlen. Auch Claudia trainierte dort. Ich drückte mir die Nase am Fenster platt, während Claudia ihren wunderbaren Körper bewegte. Egal, wie nah ich ihr auch immer kam, sie blieb unerreichbar. Sie war meine Sehnsucht. Vielleicht wollte ich auch gar nicht mit ihr zusammen sein? Vielleicht gefiel es mir, dass sie eine Sehnsucht blieb? Etwas, das ich anhimmeln konnte. Denn ich wusste: Wenn ich etwas besaß, wurde es mir schnell langweilig.
Wir steckten mitten in der Pubertät, die Hormone hatten Besitz von uns ergriffen, plötzlich drehte sich alles um Frauen, um diese wunderschönen und so rätselhaften Geschöpfe. Wir wussten nicht recht, wie, aber wir wollten Mädchen erobern. Und St. Pauli hatte uns gelehrt: Wenn du ein Mädchen eroberst, dann gehört es dir. Auf dem Kiez schmückte sich jeder gerne mit ’ner Hübschen. Oder gleich mit mehreren, wenn man es sich leisten konnte. Die Großen machten es uns vor.
Eyhan war der Anführer der Champs. Er war der geborene Anführer. Er hatte eine starke Präsenz. Außerdem hatte er dunkle Locken, stechende grüne Augen und immer ein Lächeln auf den Lippen. Eyhan hatte die Champs im Griff, und das musste er. Wir waren ein harter, wilder Haufen. Auch im Umgang mit der Polizei bewies er sein Talent. Den Chef der Davidwache durfte er duzen, und es kam öfter vor, dass er auf die Wache ging, um einem von seinen Jungs aus der Patsche zu helfen. Ich mochte ihn, weil er Charakter hatte – etwas, was man nicht so häufig traf. Er mochte mich – ich kann es nur vermuten –, weil ich etwas anders war als die anderen Jungs. Eyhan hatte auch eine stark ausgeprägte soziale Ader. Während die meisten auf dem DOM den Macker heraushängen ließen, nahm Eyhan die Kinder von befreundeten Familien mit auf den DOM am Heiligengeistfeld und fuhr mit ihnen Autoscooter oder kaufte ihnen Süßigkeiten.
Die Szene veränderte sich. Es wurde immer schwieriger, uns junge Wilde im Zaum zu halten. Immer häufiger machten wir uns Gedanken über die Zukunft. Das Jetzt und Hier interessierte immer weniger. Wir wollten es zu etwas bringen. Jeder träumte davon, eine Größe zu werden. Alles, was gerade um uns herum passierte, das nahmen wir mit, es stand uns doch eh zu.
»Es geht auch anders, doch so geht es auch.« Dieses Zitat aus der Dreigroschenoper wurde unser Leitspruch. Wir wollten wissen, ob es anders ging, als es uns die Lehrer und Eltern weismachen wollten. Wir suchten nach Wegen abseits der normalen Pfade. Mit Gewalt hatten wir schon einiges erreicht. Doch sie war verpönt, obwohl einige unserer linken Lehrer es genau so vorgelebt hatten. Als Halbstarker fühlt man sich verarscht, wenn einen die Erwachsenen immer wieder dazu auffordern, Konflikte ohne Gewalt zu lösen. Ein Blick in die Zeitung, auf die große Bühne der Weltpolitik zeigte uns doch, das Gewalt ein beliebtes und erfolgreiches Mittel war, um seine Interessen durchzusetzen. Uns brachte man allein schon deswegen Respekt entgegen, wenn wir am Gänsemarkt abhingen, weil jeder wusste, dass wir bereit waren, mit den Fäusten zu argumentieren. So wurden wir auch von den Erwachsenen ernst genommen. Und es war wichtig, dass man den Respekt der anderen genoss, wenn man ein Mädchen ansprach. Die Mädchen mochten die Harten.
Fritz und ich gerieten immer tiefer in den Sumpf der Gewalt. Was am Anfang Spaß war und uns Selbstvertrauen gab, eskalierte zusehends. Heute ist mir klar, dass sich derjenige, der mit exzessiver Gewalt lebt, in eine böse Richtung bewegt. Damals konnte ich das nicht erkennen, denn ich war selbst viel zu sehr von der düsteren Anziehungskraft der Gewalt bestimmt. Viele der anderen hatten sich bald nicht mehr
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