Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
weil wir sehr viel Respekt, Vertrauen und auch Zuneigung füreinander empfanden.
»Macht Karate, der Kleine, hm?« Der Anführer schaute mich abschätzig an.
»Yo«, warf ich knapp zurück und blickte ihm stolz ins Gesicht.
»Pass auf, Kleine«, wandte er sich nun wieder an Claudia, »du entschuldigst dich jetzt hier bei meiner Freundin, und dann geht ihr zusammen ’ne Fanta trinken. Alles klar?«
Die Typen lachten. Die Mädchen schwiegen. Ich hätte ihm gleich sagen können, dass sein Vorschlag bei Claudia bestenfalls ein abschätziges Zucken mit der Augenbraue hervorbringen würde. Aber sich entschuldigen? Claudia? Niemals! Wie erwartet, fuhr sie den Typen an: »Bist du mein Vadder, oder was? Entschuldigen? Kannste du vergessen!«
Als hätte er geahnt, dass die drei alleine nicht zurechtkamen, gesellte sich noch ein vierter Typ aus dem Café zu unserer Runde. Ohne Umwege baute er sich gleich vor mir auf und stellte fest: »Hey, Schluss mit dem Kasperletheater. Wenn der Kleine was will, klatsch ich ihm eine. Dann kann er zu seiner Mama laufen.«
Er war einer von denen, die keine Gefangenen machten. Nun war es endgültig so weit, ich hatte Angst. Aber Claudia, meine geliebte Claudia, sie war weiter auf Krawall gebürstet: »Wenn du dich traust, klatsch ihm doch eine. Wirst ja sehen, was du davon hast!« Meine Claudia! Sie war eine Frau, wie ich sie immer erträumt hatte. Eine, die geradeaus geht, auch wenn das der sichere Weg in den Untergang ist. Hauptsache, man behält seine Ehre. Doch ich war längst nicht so mutig wie sie. Ich konnte spüren, wie mir meine Gesichtszüge immer mehr entglitten und sie ihre Strenge verloren. Diese Typen hatten ganz bestimmt keine Angst vor mir. Der Neue nahm eine Angriffsstellung ein. Oder vielmehr das, was er dafür hielt. Er machte sich über mich lustig. Er grinste mich hämisch an. Yvonne und ihre Typen lachten. Ich versuchte wieder, einen möglichst bösen Blick aufzusetzen. Doch ich wusste: Ich saß in der Falle. Claudia würden sie nichts zu tun. Sie war ein Mädchen.
»Was guckst du halbe Hose so? Brauchsu ’ne Abreibung?« Obwohl ich keine Chance hatte, obwohl ich wusste, was gleich mit mir passieren würde, überkam mich urplötzlich ein Gefühl der Stärke und Überlegenheit. Es kam mir vor, als würden alle Breakers und Champs hinter mir stehen. Der Anführer von Yvonnes Schlägern legte meinem Gegenüber die Hand auf die Schulter: »Komm, Aller! Lass ihn doch. Der ist noch klein.« Wieder lachten alle. Dann hörte ich Claudias Stimme: »Komm, Michel! Wir ziehen ab.«
Die Erlösung! Endlich! Plötzlich entspannte sich alles in mir. Fast wäre ich in mich zusammengesackt, wie ein Schlauchboot, das auf einen Schlag die Luft verliert. Claudia hatte die Situation bis ans Limit getrieben, und sie wusste, dass wir uns nun zurückziehen mussten – um später erneut zuzuschlagen. Sie konnte unmöglich auf sich sitzenlassen, was hier gerade passiert war. Claudia war zwar mutig, aber sie war nicht leichtsinnig. Bei all dem offensichtlichen Wahnsinn, den sie manchmal an den Tag legte, wusste sie doch immer, wie weit sie gehen konnte. Claudia nahm meine Hand und lief los, sie zog mich hinter sich her.
Wir liefen zu einer Telefonzelle, wo sie einen Freund anrief. Jetzt, wo wir in Sicherheit waren, konnte ich sehen, dass auch Claudia etwas abbekommen hatte. Sie versuchte es vor mir zu verbergen, doch ich konnte die Tränen sehen. Ich hatte Claudia vorher noch nie weinen sehen. Zum ersten Mal konnte ich sehen, dass dieses Leben auch an ihr zerrte. Das ständige Sich-Behaupten. Die Anspannung. Immer bereit sein, das eigene Territorium zu verteidigen. Ein psychischer Ausnahmezustand als Normalfall. Das war die Schattenseite der Glitzerwelt, die ich von klein auf so sehr bewundert hatte.
Claudia kam aus der Telefonzelle.
»Ich habe Hakan angerufen«, sagte sie, »er kommt gleich vorbei und regelt die Sache für uns.«
Hakan war ein Türke, der sich bereits einen Namen auf dem Kiez gemacht hatte. Als Türsteher, Wirtschafter, als jemand, der Probleme für andere löste. Wir standen schweigend vor der Telefonzelle und warteten. Ich traute mich nicht, sie anzusprechen. Was hätte ich auch sagen können? Jetzt, da sie Hilfe holen musste, um ihre Ehre zu verteidigen – etwas, das ich nicht geschafft hatte. Ich kam mir klein und unnütz vor.
Dann tauchte Hakan auf. Ein stämmiger Typ mit tiefen, dunklen Augen und einem Dreitagebart. Auf der linken Wange trug er eine rot
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