Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
verließ sie die Gruppe und verkroch sich in einem Café gleich neben dem »Top Ten«. Das Top Ten war auch unser Laden – aber es trieben sich dort auch alle möglichen Luden und sonstigen Kiezgrößen herum. Er gehörte Karl-Heinz »Kalle« Schwensen, den der Boulevard später »Neger-Kalle« nannte (er war der Sohn eines afroamerikanischen Vaters und einer deutschen Mutter), wogegen er jedoch juristisch vorging. Kalles Markenzeichen sind bis heute der Schnauzer und die Sonnenbrille. Die Brille weigerte er sich selbst dann auszuziehen, als er 1986 niedergeschossen und schwer verletzt vom Notarzt behandelt wurde.
Es dauerte nicht lange, da kam Yvonne wieder aus dem Café heraus, mit gerader Körperhaltung und selbstbewusstem, feurigem Blick. Drei kräftige Typen dackelten hinter ihr her. Aha, dachte ich. So schnell gibt die Blonde also nicht auf. Die vier kamen auf uns zu. Wie Hein Daddel stand ich in der Gruppe mit den kichernden Mädchen. Yvonne baute sich vor uns auf, ihre drei Typen zu einigem bereit hinter ihr. Neues Spiel, neues Glück also.
Diese Männer waren wirkliche Männer. Sie waren um die zwanzig und sahen mit ihren Goldketten und gelockten Haaren aus wie Luden – wahrscheinlich waren es welche. Während ich immer kleiner wurde, stellte sich Claudia mutig vor Yvonne und sagte kämpferisch: »Und nu, Yvonne! Was willst du? Kannst dich allein nicht verteidigen, was?«
Yvonne starrte Claudia nur in die Augen.
Plötzlich rief einer der Typen hinter Yvonne: »Hey, Kleine! Was ’n los mit dir? Du hast dein Maul zu halten, solange du nicht gefragt wirst.«
Er war gedrungen, sehr breit und hatte Blumenkohlohren. Ich verstand sofort und war bereit, mein Maul zu halten. Aber bei Claudia schien die Meldung nicht so recht angekommen zu sein. Mit ihrem herablassendsten Ton blaffte sie zurück: »Was fällt dir denn ein, du aufgeblasenes Paket? Wer, glaubst du denn, der du bist, mich so anzugehen?«
Mir zitterten die Knie. Hatte Claudia das wirklich gesagt? Ja, das hatte sie! Sie musste verrückt geworden sein. Ich versuchte mich zu sammeln und hielt Ausschau nach Fluchtmöglichkeiten.
Claudias Blick wurde immer giftiger. Alle anderen schwiegen. Yvonne versuchte mit einem bösen Blick dagegenzuhalten – es blieb ein Versuch. Den Typ schien Claudias Auftritt überrascht und verwirrt zu haben. Auf St. Pauli war man es als Mann nicht gewohnt, dass eine Halbstarke solche Sprüche riskierte.
Mit jeder Sekunde wurde ich nervöser. Mir war klar, was passieren würde, wenn das hier aus dem Ruder lief. Es war schon lange nicht mehr mutig, was Claudia hier abzog. Diese Show war schlichtweg Wahnsinn. In jedem Käfig voller hungriger Löwen wären wir besser dran gewesen. Aber Claudia zog ihr Programm durch – vor diesen Luden. Auch wenn mir schon längst nicht mehr gefiel, was sie hier tat – ich würde ihr beistehen, ganz egal, wie diese Nummer ausgehen würde.
Ich wich Claudia also nicht von der Seite. Meine Entschlossenheit demonstrierte ich dadurch, dass ich meine Arme verschränkte und mich so breitbeinig wie möglich neben sie stellte. Doch ich hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Unter der Mütze wurde es auf einmal sehr, sehr warm. Ich begann zu schwitzen.
»Was will denn der Clown hier?«, rief einer der drei Typen und zeigte auch noch auf mich, damit gar nicht erst ein Zweifel aufkam, wen er meinte. Wenn er in diesem Moment gewusst hätte, wie sehr »Clown« das beschrieb, was ich auch selbst von mir dachte. Wahrscheinlich würde ich gleich auch noch ein passendes blaues Auge bekommen. Denn kaum hatte der Typ seinen Finger wieder gesenkt, trat er einen Schritt vor und baute sich vor mir auf. Ob ich wollte oder nicht: Ich sah direkt in sein seltsam spitzes Gesicht.
»Das ist kein Clown!«, hörte ich plötzlich Claudias Stimme. »Du kannst dich ja mal mit ihm anlegen.«
WAS? Claudia war nun komplett durchgeknallt. Statt endlich den Rückzug anzutreten und noch zu retten, was zu retten war, griff sie frontal an. Oder genauer gesagt: vertraute darauf, dass ich es tat. Ich sah mir die drei Typen an. Es war klar: Ich würde diesen Kampf verlieren. Doch ich wusste auch: Es war egal. Ich blieb neben Claudia und würde für sie in diesen Kampf ziehen. Nur sie konnte jetzt noch Schlimmeres verhindern.
Wenn ich heute an diese Situation denke, kommt es mir fast so vor, als stünde sie auf gewisse Weise für vieles, was Claudia und mich verband. Was an diesem Tag alles passierte, war nur möglich,
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