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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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im Griff, verloren Stück für Stück die Kontrolle – so wie Fritz, der irgendwann nur noch brannte, wenn er sich hauen konnte. Wer mit der Gewalt lebt, zu dem kommt sie irgendwann zurück. Der Sturm, den man sät, droht einen ständig hinwegzufegen. Es mag drastisch klingen: Man lebt im Krieg. Fritz und ich waren längst dafür bekannt, dass wir gern Streit suchten. Was wir damit erreichten, war uns egal. Hauptsache, man hatte Respekt vor uns.
    Eines Abends schauten wir bei mir zu Hause Videos. Das machten wir häufig. Aber die Videos stillten unsere Langeweile nicht – und Langeweile konnten wir nicht ertragen. Heute kommt es mir so vor, als ob wir uns damals selbst nur schwer ertragen konnten. Wir mussten raus, immer wieder, etwas erleben, Grenzen austesten und sie überschreiten. Wir waren Getriebene unserer Sehnsüchte, Gefangene unseres Traums, Männer sein zu wollen. Männer, wie nur St. Pauli sie hervorbringen konnte. Also machten wir uns auf, zogen durch die Straßen und fühlten uns gleich wieder ein Stück männlicher.
    Ich liebe Niederegger Marzipan. Auf St. Pauli gab es am Schulterblatt einen tollen Marzipan-Laden. Es war nie die Art der Soliden, außerhalb der Öffnungszeiten einkaufen zu gehen. Aber es war unsere Art. Ich nahm Anlauf, sprang und versetzte der Scheibe einen Sidekick. Sie ging sofort zu Bruch.
    »Geil, Aller!« Fritz war aus dem Häuschen. Es war acht Uhr, ein Herbstabend. Die Straßen waren noch belebt, aber die Leute interessierten uns nicht – und wir interessierten die nicht. Ich sprang in den Laden, griff mir ein paar Schachteln Marzipan und stieg wieder auf die Straße.
    »Hier, Fritz! Guten Appetit.«
    Fritz öffnete eine Schachtel.
    »Scheiße, Aller! Ist nur Deko.«
    Alles, was ich eingesteckt hatte, war Deko. Wir hatten Hunger, gingen zu einem Imbiss und aßen Pommes. Doch das Niederegger Marzipan ging mir nicht aus dem Kopf. Also liefen wir zurück zum Schulterblatt. Noch hatte niemand den Bruch entdeckt. Wieder stieg ich in den Laden. Diesmal vergewisserte ich mich, dass alle Schachteln voll waren. Just in dem Moment, als ich in dem zerbrochenen Schaufenster stand, fuhr ein Peterwagen vorbei, im Schritttempo. Wir starrten die Polizisten an. Die Polizisten starrten uns an. Aber der Wagen stoppte nicht. Wollten die uns einfach nicht sehen? Seltsam. Wir packten so schnell es ging alle Schachteln ein und liefen los, während wir schon das Marzipan aßen. Wir bekamen Durst. Und da uns der Weg zum nächsten Imbiss zu weit war, schlug ich mit der Faust einfach die Scheibe der Bäckerei ein, vor der wir standen. Die Schaufenster waren damals noch fast alle aus dünnen und ungesicherten Scheiben – bis auf den Walkman-Laden –, heute wäre es sicher nicht mehr so einfach. Wir nahmen uns einen Brottrunk. Aber der schmeckte nicht. Also stellten wir ihn wieder zurück. Dass wir bei alldem von Passanten beobachtet wurden, war uns egal. Es mag seltsam klingen, aber durch unsere Ausstrahlung fühlten wir uns beschützt. Wir glaubten tatsächlich, niemand könne uns etwas anhaben.
    Dann war Fritz an der Reihe. Er musste sich beweisen, immer wieder. Er war süchtig nach Gewalt. Also stellte er sich breitbeinig hin, stemmte die Hände in die Hüften und beobachtete die Umgebung. Er suchte ein Opfer. Jemanden, der vielleicht mal einen vor den Latz brauchte. Scheiben einschlagen war eine Sache, aber Gewalt gegen eine Menschen, grundlos und ohne dass man selbst bedroht war, das fand ich unnötig. Aber: mitgehangen, mitgefangen. Wir gingen ins »Pickenpack« an der Ecke Schulterblatt/Neuer Pferdemarkt.
    Es war die Zeit, als die Hells Angels öfter in den Laden kamen. Klaus-Peter Grabe war ein Riese von fast zwei Metern. Kaum jemand traute es sich, sich ihm in den Weg zu stellen. Nicht umsonst nannte man ihn »Vollstrecker«. Im Sommer 1983 parkte er seine Harley vor dem Laden. Mit ein paar anderen Typen ging er rein. Dann schnappte er sich eine Frau und zwang sie, seine Stiefel abzulecken. Die anderen rissen dem Kellner das Essen aus der Hand. Kreuz und quer flogen die Teller. Einer kotzte sogar auf den Tresen. Der Chef des Pickenpack sagte später: »Die rustikalen Auftritte führten bei Gästen zu einer gewissen Appetitlosigkeit.«
    Fritz bestellte ein Bier, ich einen KiBa. Wir sagten kein Wort. Fritz schaute sich um, so als stünde er auf einem Segelboot und suche den Horizont nach Land ab. Diese Geste diente nicht dazu, sich tatsächlich umzuschauen, sondern den Silberrücken zu

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