Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
Goldkette, seine Lederjacke, all das, was ich immer so sehr bewundert hatte an den Luden, fand ich nun widerwärtig. Aber ich gab mich locker.
»Yo, Jungs! Ich geh dann mal!«
Die beiden zogen sich wieder eine Linie durch, hatten mir nicht zugehört, waren in ihrer Welt aus Koks abgetaucht. Ich verließ die Wohnung, stand vor dem Haus, atmete tief durch und spazierte los.
Das Unwohlsein blieb, ein dumpfes Gefühl im Magen, ein dumpfes Gefühl im Kopf. Ich war traurig, dass sich einer meiner Freunde, mit dem ich schon sehr viel Unsinn angestellt hatte, mit solchen blöden Typen abgab. Ich war traurig, weil ich diesen Manni kennengelernt hatte. Es gab so viele Persönlichkeiten auf dem Kiez. Aber dieser Manni war keiner von den Schillernden. Der war ein kleingeistiger Futzi, ein typischer Hartgeldlude ohne große Talente und Ideen. Manni gehörte zum Bodensatz von St. Pauli. Das war nicht mein St. Pauli, nicht meine Welt.
Zweifel und Fragen rauschten durch meinen Kopf. War ich wirklich zu weich? Oder hatte ich dieses Quentchen Gewissen und Anstand, was mich von den meisten meiner Freunde unterschied? War das das Leben, das ich wollte? Ich war verwirrt, ging zu Dacascos, um die Verwirrung loszuwerden. Ich trainierte hart, härter als sonst. Mir taten die Hände, Arme und Beine weh. Aber ich trainierte weiter, schlug und trat, schlug und trat, bis ich keine Luft mehr bekam und mir schwindelig war vor Anstrengung.
Ich wollte das Leben dieses Mannis nicht. Ich wollte nicht in die Gosse, ich wollte zu den Sternen. Egal, wie viel Geld dieser Manni machte – vierzig- oder sechzigtausend Mark im Monat –, er würde seiner kleinen, stinkenden Welt nie entfliehen können. Das machte ihn zu einer armseligen Kreatur. Was kannte dieser Manni schon? Wovon hatte er Ahnung? Von Nutten, von dicken Autos, von Koks, von spießigen Möbeln. Von einer Wohnung, in der eine Sonnenbank stand, die nach Bratfett und billigem Parfum stank? Aber sonst? Was wusste er von gutem Essen? Von Stil? Von gutem Geschmack? Ich wusste, was Stil war. Noch lief ich genauso herum wie die Luden. Aber ich hatte einen Hunger für Stil entwickelt. Einen Hunger, der sich irgendwann Bahn brechen würde in meinem Leben. Das spürte ich. Stil als Horizonterweiterung. Stil als eine Idee davon, dass man Grenzen überschreiten muss in seinem Leben, um weiterzukommen. Ich liebte französische Filme, damals schon. Nicht nur wegen schöner Frauen wie Jane Birkin, Romy Schneider oder Brigitte Bardot. Auch wegen der Männer, die elegant und dennoch männlich waren. Männer wie Alain Delon, Jean-Paul Belmondo oder Jean-Louis Trintignant. Ich rief mir die Namen in Erinnerung, sang die Namen in meinem Kopf, um gute Laune zu bekommen.
Die Veränderung begann langsam, aber unaufhörlich. Sein Bewusstsein zu ändern, das dauert. Und es erfordert Mut und Kraft, das zu verlassen, was man sich aufgebaut und womit man so lange gelebt hat. Natürlich ist es wichtig, Geld zu haben. Aber was nützt es einem, wenn man ein Manni ist? Ich wollte Alain Delon sein oder besser: Jean-Paul Belmondo. Einen französischen Namen hatte ich ja schon. Mein Ideal war ein anderes. Und ich war mir sicher: Auf St. Pauli gab es die Vorbilder: kluge Köpfe mit Stil. Claudia zum Beispiel hatte Stil. Ich verstand nie, wie sie das machte. Denn viel Geld hatte sie nicht. Aber sie hatte ein ausgesprochenes Talent, sich gut anzuziehen.
In den nächsten Wochen bekam ich ein paar Schuhe von Schuh Messmer geschenkt, sehr elegante, schwarze Schuhe. Meine Oma kannte den Messmer, dessen Geschäft auf St. Pauli bis heute eine Institution ist. Sie bekam Prozente. Dazu kaufte ich mir teure Karottenjeans, die nicht ganz so sportlich aussahen, und ein Hemd. Meine lange Mähne gab ich auf und ließ mir die Haare kurz schneiden. Nun kam ich mir vor wie ein Solider.
Meine Oma machte sich lustig über mein neues Auftreten. »Michel! Du siehst ja aus – wie aus einer anderen Welt.«
Recht hatte sie. Ich stolzierte über den Kiez wie frisch aus dem Ei gepellt. Claudia und ihre Freundin Melanie kamen mir entgegen. »Was für ein schöner Mann«, raunten die Mädels. Hohn oder Kompliment, da war ich mir nicht sicher.
Ich wollte erwachsener rüberkommen. Wie die Popper. Die mochte ich zwar nicht, aber sie gehörten zu den Erfolgreichen. Ich dagegen war ein erfolgloser Underdog. Zumindest in deren Augen. Das beschämte mich immer mehr. Auch wenn es noch für diese Wut sorgte, die mich immer schon angetrieben hatte.
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