Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
die Nikes immer noch heilig waren. Bei meinen wenigen Schulbesuchen trug ich die Ganguniform, hing mit Jorge, Tom, Fritz und Mike ab. Wir waren alle Raufbolde und flirteten mit den Mädels. Wir waren die Coolsten. Klar! Und wer das nicht so empfand, der tat gut daran, das uns besser nicht ins Gesicht zu sagen. Denn wir konnten auf so eine Kritik schrecklich eingeschnappt reagieren. Den Lehrern war klar, was für eine Karriere wir anstrebten. Als linksorientierten Beamten gefiel es denen natürlich nicht, dass wir ins Milieu wollten. Dort, wo ihrer Meinung nach Leute ausgebeutet und abgezockt wurden, wo Sexismus und Machotum gefördert wurden. Die Zeit, dass sie mich als Außenseiter sahen, der nur etwas Führung brauchte, um auf den richtigen Weg gebracht zu werden, war vorbei. An Führung durch einen Lehrer war ich ohnehin nicht mehr interessiert. Ich glaubte selbst zu wissen, was gut für mich war. Die Lehrer jedenfalls wussten es nicht.
Mit der Zuhälterei aber hatte ich ein entscheidendes Problem. Ich wollte die niedlichen Mädchen nicht an die Loddels verticken, für ’ne schäbige Abstecke. Ich wollte sie lieber für mich. Aber wer mit den Wölfen fressen will, der muss auch mit ihnen heulen. Ich war zerrissen. Was wollte ich? St. Pauli war mein Zuhause. Aber ich wollte nicht mit einem Bein im Grab und dem anderen im Knast leben. Doch in St. Pauli gibt es einen Spruch: Als Zuhälter wird man nicht geboren, zum Zuhälter wird man gemacht.
Vor dem Top Ten lernte ich schließlich Lydia kennen. Aus den Boxen der Imbissbude nebenan schallte krachend der Funk und Soul von GAP Band. An diesem Tag trug ich meine neue Lederjacke mit Stoffapplikationen und Fransen. So eine, wie sie damals in Mode war.
»Na, Süßer!« Lydia hatte mich sofort ins Visier genommen und lud mich zu sich nach Hause ein. Dort stellte sie mich ihrer Mutter vor. Die Wohnung atmete den Mief der Kleinbürgerlichkeit. Langweilige Schränke, Ledersofa, verstaubte Zimmerpflanzen.
Die Mutter hatte lange an der Reeperbahn gestanden und arbeitete nun als Selbständige zu Hause. Wir waren uns gleich sympathisch. Ich trank ein Mineralwasser, wir schnackten, dann verschwanden Lydia und ich in ihrem Zimmer. Wir knutschten. Irgendwann erzählte sie mir, dass sie auf dem Kiez Karriere machen wolle. Das kommt nicht selten vor. Entgegen aller Vorurteile, die besagen, dass Frauen zur Prostitution gezwungen würden, habe ich viele Nutten kennengelernt, die den Job freiwillig machten. Das Zeug für eine Kiez-Karriere hatte Lydia. Sie war eine Schönheit, lange Beine, straffer Busen, ein engelsgleiches Gesicht. Und knutschen konnte sie, was eine Prostituierte allerdings nie bei einem Freier machen durfte. Ficken ja, knutschen nein. Beim Knutschen verliebt man sich!
»Willst du auf mich aufpassen?«, fragte Lydia plötzlich.
»Äh, was?« Ich war baff. Ich wollte Zuhälter werden – und plötzlich war hier die Chance, mein erstes Mädchen zu bekommen. Das Schicksal schien sie mir vor die Nase gesetzt zu haben. Aber so mit der Realität konfrontiert zu werden war doch etwas anders, als sich das Ganze bunt und schön auszumalen. Zwischen Wille und Vorstellung lag mindestens eine Welt auf dem Kiez.
Lydia sah mich an. Keine Frage. Ihr war es ernst. Ich fand sie attraktiv, anziehend, sympathisch. Will man so jemanden auf den Strich schicken? Ich war fünfzehn. Ich wollte eine Freundin. Ich brachte es nicht über das Herz, sie für mich laufen zu lassen. Ich musste mich entscheiden. Ich machte krasse Sachen, schlug Leute aus Versehen zusammen, klaute. Aber es gab diese Punkte, an denen sich mein Gewissen meldete. Aber es war nicht leicht, auf sein Gewissen zu hören, wenn man in einer Welt lebte, die kein Gewissen und keine Moral zuließ. Die einen dafür sogar verurteilte und ausstieß.
Einen Monat lang war ich mit Lydia zusammen. Es dauerte nicht lange, da hatte sie ihren Zuhälter gefunden, eine bekannte Größe.
Kurze Zeit später lernte ich wieder ein Mädchen kennen, das auch erwartete, dass ich ihr Zuhälter würde. Es war wie verhext. Ich wollte eine Freundin und bekam eine Nutte. Ich wollte sie nicht verlieren, aber es war unvermeidlich. Selbst mein Gockelgang konnte sie nicht beeindrucken. Auch sie verließ mich, um anschaffen zu gehen.
Meine nächste Freundin ging schon auf den Strich, was ich aber erst nach vier Wochen herausfand. Sie machte mir tolle Geschenke und war um mich bemüht. Aber als ich dann darauf angesprochen wurde und für alle
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