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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Generalgubernatorskaja-Straße 5, Zimmer 137.
    Wer kein
Arbeitsbuch besitzt oder falsche oder gar erlogene Eintragungen macht, wird mit
aller Strenge der Kriegszeit bestraft. Eine genaue Instruktion zur Führung des
Arbeitsbuches wurde in der I.J.E. Nr. 86 (1013) dieses Jahres veröffentlicht, sie
hängt aus in der Lebensmittelabteilung des Jurjatiner Stadtsowjets, Zimmer 137.«
    In einer
anderen Bekanntmachung hieß es, in der Stadt seien ausreichend
Lebensmittelvorräte vorhanden, die lediglich von der Bourgeoisie gehortet
würden, um die Verteilung zu desorganisieren und Chaos in die
Lebensmittelversorgung zu bringen. Die Bekanntmachung schloß mit den Worten:
    »Wer des
Hortens und Hamsterns von Lebensmittelvorräten überführt wird, ist auf der
Stelle zu erschießen.«
    Eine
dritte Bekanntmachung enthielt das Angebot:
    »Im
Interesse einer funktionierenden Lebensmittelversorgung schließen sich die
nicht zu den Ausbeuterelementen gehörenden Einwohner zu Verbraucherkommunen
zusammen. Auskünfte über die Einzelheiten erteilt die Lebensmittelabteilung des
Jurjatiner Stadtsowjets, Oktjabrskaja-Straße, ehemalige
Generalgubernatorskaja-Straße 5, Zimmer 137.«
    Militärangehörige
wurden gewarnt:
    »Wer seine
Waffen nicht abgibt oder sie ohne entsprechende Genehmigung neueren Datums
führt, wird mit aller Strenge des Gesetzes bestraft. Waffenscheine werden im
Jurjatiner Revkom, Oktjabrskaja-Straße 6, Zimmer 63 umgetauscht.«
     
    Zu der
Gruppe der Lesenden trat ein ausgemergelter Mann, der sich offenbar lange nicht
gewaschen hatte und daher dunkelhäutig aussah. Er war verwildert, trug einen
Schultersack und einen Stock. Die nicht geschnittenen Haare zeigten noch kein
Grau, doch der dunkelbraune Vollbart hatte schon Silberfäden. Der Mann war
Doktor Juri Shiwago. Die Pelzjoppe mochte man ihm längst unterwegs weggenommen
haben, oder er hatte sie gegen Lebensmittel getauscht. Er war bekleidet mit
einer abgetragenen Jacke mit zu kurzen Ärmeln, die ihn nicht wärmte.
    Der Sack
enthielt einen Kanten Brot, den er im letzten Dorf vor der Stadt geschenkt
bekommen hatte, und ein Stück Speck. Vor einer Stunde war er von der Eisenbahnseite
her in die Stadt gekommen, so lange hatte er bis zu dieser Kreuzung gebraucht,
so schwach und erschöpft war er von den Fußmärschen der letzten Tage. Er blieb
oft stehen und hätte sich am liebsten zu Boden geworfen und die Steine dieser
Stadt geküßt, die noch einmal wiederzusehen er nicht hatte hoffen können und
über deren Anblick er sich freute wie über ein lebendiges Wesen.
    Eine weite
Strecke, die Hälfte seines Fußmarsches, war er den Eisenbahnschienen gefolgt.
Sie waren gänzlich verwahrlost, unbenutzt und von Schnee verweht. Sein Weg
führte ihn vorbei an weißgardistischen Zügen, Personen- und Güterzügen, die
infolge der Verwehungen, der Niederlage Koltschaks und des Brennstoffmangels
steckengeblieben waren. Die unter Schnee begrabenen Züge zogen sich fast
ununterbrochen über viele Dutzende von Werst hin. Sie dienten bewaffneten
Banden von Straßenräubern und kriminellen und politischen Flüchtlingen, den
unfreiwilligen Vagabunden jener Zeit, die sich verstecken mußten, als Festung
und Zuflucht, mehr noch aber als Massengrab und Gemeinschaftsgruft für solche,
die erfroren oder am Flecktyphus gestorben waren; die Seuche wütete längs der
Strecke und hatte in der Umgebung ganze Dörfer hin weggerafft.
    . Diese
Zeit bestätigte das alte Sprichwort: Der Mensch ist des Menschen Wolf. Wenn ein
Wanderer einem anderen begegnete, wich er ihm seitlich aus, denn einer pflegte
den anderen zu töten, um nicht selbst getötet zu werden. Vereinzelt gab es
Fälle von Menschenfresserei. Die Gesetze der menschlichen Zivilisation galten
nicht mehr. Es herrschte das Gesetz der Tiere. Der Mensch hatte prähistorische
Träume aus dem Höhlenzeitalter.
    Vereinzelte
Schatten, die sich manchmal seitlich an Shiwago vorbeistahlen oder furchtsam
weit vor oder hinter ihm den Weg überquerten und denen auch er möglichst
auswich, kamen ihm gelegentlich bekannt vor, als hätte er sie schon irgendwo
gesehen. Es dünkte ihm, als kämen sie alle aus dem Partisanenlager. In den
meisten Fällen täuschte er sich, aber einmal trog ihn sein Blick nicht. Ein
Halbwüchsiger kroch aus einem Schneeberg, unter dem sich ein internationaler
Schlafwagen verbarg, heraus und schlüpfte nach Verrichtung seiner Notdurft
wieder hinein, und das war tatsächlich einer von den Waldbrüdern, nämlich

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