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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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sich gegenseitig an Fanatismus und Grausamkeit, die
von Mal zu Mal schlimmer wurden. Vom Blut wurde einem übel, es stand bis an den
Hals, stieg zum Kopf, füllte die Augen. Er hatte den Kopf nicht hängenlassen,
der Ausdruck war unpassend, es war etwas ganz anderes gewesen. Aber wie sollte
er Liweri das erklären?
    In der
Erdhütte roch es stickig nach Qualm. Er setzte sich am Gaumen ab, kitzelte Hals
und Nase. Licht gab nur ein brennender Holzspan, der in einem eisernen Dreibein
steckte. Wenn er niedergebrannt war, fiel der verkohlte Rest in eine
daruntergestellte Schüssel mit Wasser, und Liweri klemmte einen angezündeten
neuen Span in den Ring.
    »Sie
sehen, was ich hier anzünde. Das Öl ist alle. Das Holz ist zu trocken, darum
brennt der Span so schnell herunter. Ja, wir haben Skorbut im Lager. Sie wollen
wirklich kein Kalbfleisch? Skorbut. Warum gucken Sie so, Doktor? Man müßte den
Stab zusammenrufen, die Lage besprechen, der Führung einen Vortrag halten über
den Skorbut und seine Bekämpfung.«
    »Spannen
Sie mich doch nicht so auf die Folter, um Gottes willen. Was wissen Sie über
unsere Angehörigen?«
    »Ich sagte
Ihnen doch, ich habe keine genauen Informationen. Aber ich bin noch nicht
fertig mit dem, was ich aus den letzten Kriegsnachrichten weiß. Der Bürgerkrieg
ist zu Ende. Koltschak ist völlig geschlagen. Die Rote Armee treibt ihn längs
der Eisenbahnmagistrale nach Osten, um ihn ins Meer zu werfen. Andere
Teilkräfte der Roten Armee sind auf dem Weg zu uns, um sich mit uns zu
vereinigen und seine zahlreichen, überall verstreuten rückwärtigen Kräfte zu
vernichten. Der Süden Rußlands ist gesäubert. Freuen Sie sich nicht? Ist Ihnen
das zu wenig?«
    »Doch, ich
freue mich. Aber wo sind unsere Familien?«
    »Nicht in
Warykino, und das ist ein großes Glück. Kamennodworskis Legenden im vorigen
Sommer haben sich nicht bestätigt, wie ich's mir dachte - erinnern Sie sich an
die dummen Gerüchte, wonach eine rätselhafte Völkerschaft über Warykino
hergefallen sein sollte? Aber die Siedlung ist vollständig leer. Irgend etwas
muß es dort wohl doch gegeben haben, und zum Glück sind beide Familien
rechtzeitig weggegangen. Lassen Sie uns glauben, daß sie in Sicherheit sind.
Dies sind nach dem, was meine Aufklärung sagt, Vermutungen der wenigen
Gebliebenen.«
    »Und
Jurjatin? Was ist dort? In wessen Händen ist die Stadt?«
    »Das ist
auch so widersinnig. Es kann auch gar nicht stimmen.«
    »Nämlich?«
    »Dort
sollen noch die Weißen sein. Das ist völlig absurd und ganz unmöglich. Ich will
es Ihnen durch den Augenschein beweisen.«
    Liweri
zündete einen neuen Span an, faltete die zerknitterte, zerfledderte Karte 1:50 000 so, daß
die entsprechenden Planquadrate sich oben befanden, und erklärte mit dem
Bleistift in der Hand: »Schauen Sie her. Auf allen diesen Abschnitten sind die
Weißen zurückgeworfen. Hier, hier und hier, in dem ganzen Kreis. Können Sie mir
folgen?«
    »Ja.«
    »In Richtung
Jurjatin können keine mehr sein. Andernfalls wären ihre Verbindungen
abgeschnitten, und sie säßen unweigerlich im Kessel. Ihre Generäle, so unfähig
sie auch sein mögen, müssen das begreifen. Sie ziehen die Pelzjoppe an? Wo
wollen Sie hin?«
    »Entschuldigen
Sie, ich gehe kurz hinaus, komme gleich wieder. Hier ist alles verqualmt von
Machorka und dem Span. Mir ist schlecht. Ich will frische Luft schnappen.«
    Doktor
Shiwago stieg aus der Erdhütte nach oben, wischte mit dem Fäustling den Schnee
von dem dicken Baumstamm, der als Sitzbank neben dem Eingang lag, setzte sich
darauf, stützte den Kopf in beide Hände und dachte nach. Die winterliche Taiga,
das Lager im Wald, die achtzehn Monate, die er bei den Partisanen verbracht
hatte, all das schien es nicht mehr zu geben. Er hatte alles vergessen. Vor
sich sah er nur die Angehörigen, über die er Vermutungen anstellte, eine immer
schrecklicher als die andere.
    Da geht
Tonja im Schneesturm über ein Feld, Saschenka in den Armen. Sie wickelt ihn
fest in eine Decke, ihre Füße sinken im Schnee ein, sie zieht sie mühsam
heraus, der Schneesturm zerrt an ihr, wirft sie zu Boden, sie stürzt, rafft
sich wieder auf, hat nicht die Kraft, auf den geschwächten, nachgebenden Beinen
stehen zu bleiben. Oh, das vergißt er immer wieder, sie hat ja zwei Kinder, das
Kleinere stillt sie noch. Sie hat keine Hand frei wie die Flüchtlingsfrauen an
der Tschilimka, die vom Kummer und von den unvorstellbaren Anstrengungen den
Verstand verloren haben.
    Sie

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