Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
Vom Netzwerk:
gelesen.
    Die
ständige Angst um das Schicksal seiner Familie im Falle seines Todes packte ihn
stärker als je zuvor. In seiner Phantasie sah er sie schon der langsamen Folter
ausgeliefert, sah ihre qualverzerrten Gesichter, hörte sie stöhnen und um Hilfe
rufen. Um sie vor solchen Leiden zu bewahren und seine eigenen abzukürzen,
brachte er sie in seiner rasenden Trauer selber um. Er erschlug seine Frau und
die drei Kinder mit dem rasiermesserscharfen Beil, mit dem er den Mädchen und
dem geliebten Sohn Fljonuschka Spielzeug geschnitzt hatte.
    Erstaunlich
war, daß er nach seiner Tat nicht Hand an sich legte. Was dachte er sich dabei,
glaubte er, noch eine Zukunft zu haben? Was hatte er für Aussichten und Absichten?
Er war eindeutig ein Wahnsinniger, der mit seinem Dasein unwiderruflich
abgeschlossen hatte.
    Während
Liweri, Doktor Shiwago und die Mitglieder des Armeesowjets tagten und erörterten,
was mit ihm zu geschehen habe, streifte er frei durchs Lager, ließ den Kopf auf
die Brust hängen, und seine trübgelben, unter gesenkten Brauen blickenden Augen
sahen nichts. Das stumpf flackernde Lächeln unmenschlichen, durch nichts zu
besiegenden Leides wich nicht von seinem Gesicht.
    Niemand
hatte Mitleid mit ihm. Alle wichen vor ihm zurück. Es erhoben sich Stimmen, die
zur Selbstjustiz aufriefen. Sie fanden kein Gehör.
    Er hatte
auf der Welt nichts mehr zu tun. Gegen Morgen verschwand er aus dem Lager, so
wie ein tollwütiges Tier vor sich selbst davonläuft.
     
    Längst war
Winter, und es herrschte klirrender Frost. Abgerissene Laute und Formen ohne
erkennbaren Zusammenhang zeigten sich in dem frostigen Dunst, standen da,
bewegten sich, verschwanden. Nicht die Sonne, an die man auf Erden gewöhnt war,
sondern etwas anderes, Untergeschobenes hing als dunkelrote Kugel im Wald. Von
ihr gingen zäh und langsam wie im Traum oder im Märchen Strahlen aus, dick wie
Honig, von bernsteingelber Farbe, erstarrten in der Luft und froren an den
Bäumen fest. Unsichtbare Füße in Filzstiefeln, kaum die Erde berührend und mit
jedem Schritt im Schnee ein lautes Knirschen auslösend, bewegten sich in allen
Richtungen, und die dazugehörenden Gestalten in Baschlyk und Pelzjoppe schwebten
losgelöst durch die Luft wie am Firmament kreisende Sterne.
    Bekannte
blieben stehen, kamen ins Gespräch. Sie näherten einander die Gesichter, die
tiefrot waren wie nach der Sauna, mit den vereisten Bastwischen ihrer Barte.
Wolken von dickem, zähem Dampf entfuhren den Mündern, so gewaltig, daß sie
nicht zu den gleichsam erfrorenen Worten ihres kargen Gesprächs paßten.
    Auf einem
Pfad traf Liweri den Arzt.
    »Ach, Sie?
Lange nicht gesehen! Kommen Sie bitte abends in meine Erdhütte. Sie können bei
mir übernachten. Dann reden wir von alten Zeiten. Ich habe auch eine
Mitteilung für Sie.«
    »Ist der
Kurier zurück? Was Neues aus Warykino?«
    »Von
meinen und Ihren Angehörigen steht nichts in der Meldung. Aber grade daraus
ziehe ich tröstliche Schlüsse. Sie müssen sich rechtzeitig in Sicherheit
gebracht haben. Sonst wäre es erwähnt. Aber wir reden heute abend über alles.
Also, ich erwarte Sie.«
    In der
Erdhütte wiederholte der Arzt seine Frage: »Sagen Sie mir nur, was wissen Sie
von unseren Familien?«
    »Sie wollen
schon wieder nicht weiter sehen als bis zu Ihrer Nasenspitze. Es scheint, daß
die Unsrigen leben und in Sicherheit sind. Aber um sie geht es gar nicht. Es
gibt großartige Neuigkeiten. Möchten Sie Fleisch essen? Ich habe kalten
Kalbsbraten.«
    »Nein,
danke. Nicht alles auf einmal. Kommen Sie zur Sache.«
    »Wie Sie
wollen. Ich esse was. Wir haben Skorbut im Lager. Die Leute wissen nicht mehr,
was das ist, Brot und Gemüse. Wir hätten im Herbst das Sammeln von Nüssen und
Beeren organisieren müssen, als noch die Flüchtlingsfrauen hier waren. Ich sage
Ihnen, um unsere Sache steht es bestens. Was ich immer prophezeit habe, ist
eingetreten. Das Eis ist gebrochen. Koltschak zieht sich an allen Fronten
zurück. Das ist eine vollständige, sich elementar entwickelnde Niederlage.
Sehen Sie? Was habe ich gesagt? Und Sie haben den Kopf hängenlassen.«
    »Wann habe
ich den Kopf hängenlassen?«
    »Unentwegt,
besonders, als Wizyn uns bedrängte.«
    Doktor
Shiwago erinnerte sich an den noch nicht lange zurückliegenden Herbst, an die
Erschießung der Meuterer, an den Mord Palychs an seiner Frau und seinen Kindern,
an die blutigen Schlägereien und Gemetzel, deren Ende nicht abzusehen war.
Weiße und Rote überboten

Weitere Kostenlose Bücher