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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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der
vermeintlich erschossene Terescha Galusin. Er war nicht tödlich getroffen
worden, hatte lange bewußtlos gelegen, war wieder zu sich gekommen, von der
Hinrichtungsstätte weggekrochen und hatte sich im Wald versteckt, wo er sich
von seinen Wunden erholte. Jetzt schlug er sich heimlich unter anderem Namen zu
den Seinen nach Krestowosdwishensk durch und versteckte sich unterwegs in den
eingeschneiten Zügen.
    Diese
Bilder und Anblicke erweckten den Eindruck, als wären sie nicht von dieser
Welt. Sie wirkten wie Teilchen irgendwelcher unbekannter Existenzen von anderen
Sternen, die irrtümlich auf die Erde gelangt waren. Nur die Natur war der
Geschichte treu geblieben und bot sich so dem Blick, wie die Maler der neueren
Zeit sie darzustellen pflegten.
    Es gab
stille Winterabende, hellgrau oder dunkelrosa. Vor einem lichten Sonnenaufgang
hoben sich schwarze Birkenwipfel ab, feingestrichelt wie alte Schriftzeichen.
Schwarze Bäche flössen unter rauchgrauer Eiskruste zwischen weißen Bergen, die
unten vom Flußwasser geschwärzt wurden. Solch ein Abend, frostig, von durchscheinendem
Grau, mitleidsvoll wie Weidenkätzchen, würde in ein oder zwei Stunden gegenüber
dem Hause mit den Figuren in Jurjatin anbrechen.
    Der Arzt
trat zu der Tafel mit der Zentralpresse an der Hausmauer, um die staatlichen
Verlautbarungen durchzusehen. Aber sein Blick wanderte immer wieder auf die
andere Straßenseite und blieb an mehreren Fenstern im ersten Stock des Hauses
hängen. Diese Fenster zur Straße waren früher mit Kreide geweißt gewesen. In
den dahinterliegenden Zimmern hatte Lara die Möbel der Wohnungsinhaber
aufbewahrt. Obwohl der Frost die unteren Hälften der Scheiben mit einer dünnen
Kristallkruste überzogen hatte, war zu sehen, daß sie jetzt durchsichtig und
von der Kreide freigewaschen waren. Was hatte diese Veränderung zu bedeuten?
Waren die Wohnungsinhaber zurückgekehrt? Oder war Lara ausgezogen, die Wohnung
von anderen Mietern bewohnt und alles dort anders geworden?
    Die
Ungewißheit setzte Juri Shiwago zu. Er konnte seiner Erregung nicht Herr
werden. Darum überquerte er die Straße, öffnete die Haustür und stieg die
wohlbekannte und geliebte Vordertreppe hinauf. Wie oft hatte er sich im
Waldlager an das Gittermuster der gußeisernen Stufen erinnert, wo er jeden
Schnörkel kannte! Auf dem Treppenabsatz konnte man durch das Gitter nach unten
blicken, wo alte Eimer, Schüsseln und zerbrochene Stühle lagen. Das war alles
noch da. Der Arzt empfand beinahe Dankbarkeit gegenüber der Treppe für ihre
Treue zur Vergangenheit.
    Früher war
an der Tür eine Klingel gewesen, aber die hatte schon vor seiner Gefangenschaft
im Wald nicht funktioniert. Er wollte klopfen, da sah er, daß sie auf neue Art
verschlossen war, nämlich mit einem schweren Vorhängeschloß, dessen Bügel durch
zwei grob in die alte Eichentür mit ihrem schönen und stellenweise abgefallenen
Schnitzwerk geschraubte Ringe lief. Eine derartige Barbarei wäre früher undenkbar
gewesen.
    Damals
benutzte man sorgfältig eingepaßte Türschlösser, die gut schlossen, und wenn
sie defekt waren, gab es Schlosser, die sie in Ordnung brachten. Dieses
nichtige Detail zeugte auf seine Weise von der allgemeinen, weit
fortgeschrittenen Verschlechterung.
    Doktor
Shiwago war überzeugt, daß Lara und Katenka nicht zu Hause seien; vielleicht
waren sie gar nicht in Jurjatin und vielleicht auch nicht mehr auf der Welt. Er
war auf das Schlimmste gefaßt. Nur um sein Gewissen zu beruhigen, wollte er in
das Loch greifen, vor dem er und Katenka solche Angst hatten, und er trat
zunächst mit dem Fuß gegen die Wand, um nicht in dem Loch auf eine Ratte zu
stoßen, ohne Hoffnung, an dieser vereinbarten Stelle etwas vorzufinden. In dem
Loch steckte der Ziegelstein. Der Arzt nahm ihn heraus und griff in die
Vertiefung. O Wunder! Ein Schlüssel und ein Brief. Der Brief war ziemlich lang,
es war ein großes Blatt. Shiwago ging zum Fenster des Treppenabsatzes. Ein noch
größeres Wunder, noch unwahrscheinlicher! Der Brief war an ihn gerichtet! Rasch
las er:
    »Mein
Gott, welches Glück! Ich höre, Du lebst und hast Dich wieder angefunden. Leute
haben Dich in der Umgebung gesehen, sie kamen gelaufen und sagten es mir. In
der Annahme, du würdest als erstes nach Warykino eilen, bin ich mit Katenka
dorthin gefahren. Für alle Fälle findest Du hier den Schlüssel. Warte auf
mich, gehe nicht weg. Ja, das weißt Du noch gar nicht, ich wohne jetzt im
vorderen Teil der Wohnung, in den

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