Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
Vom Netzwerk:
hat
keine Hand frei, und weit und breit ist niemand, der ihr helfen könnte.
Saschenkas Vater ist verschollen. Weit weg ist er, sein Leben verläuft fern von
ihnen, und ist das überhaupt ein Vater, wie er sein muß? Und wo ist ihr Vater,
Alexander Gromeko? Wo ist Njuscha? Wo sind die anderen? Oh, lieber nicht solche
Fragen stellen, lieber nicht nachdenken, lieber nicht grübeln.
    Der Arzt
stand von dem Baumstamm auf, um wieder in die Erdhütte hinunterzusteigen. Aber
plötzlich nahmen seine Gedanken eine andere Richtung. Er überlegte es sich
anders.
    Skier, ein
Rucksack mit Dörrbrot und alles für die Flucht Notwendige lagen seit langem in
einem Versteck. Er hatte die Sachen außerhalb der bewachten Lagerzone im Schnee
vergraben, unter einer hohen Fichte, deren Rinde er mit einem Merkzeichen
versehen hatte. Dorthin ging er jetzt auf einem Trampelpfad zwischen den
Schneewehen. Es war eine klare Nacht. Der Vollmond schien. Der Arzt wußte, wo
die Posten standen, und umging sie erfolgreich. Aber auf der Lichtung mit der
vereisten Eberesche rief ihn schon von weitem ein Posten an und kam auf schnell
gleitenden Skiern auf ihn zu.
    »Halt! Ich
schieße!« Wer da? Parole!
    »Bist du
verrückt geworden, Kumpel? Erkennst du mich nicht? Ich bin doch euer Arzt,
Shiwago.«
    »Entschuldigung!
Nicht böse sein, Genosse Shiwag. Ich hab dich nich erkannt. Auch wenn du Shiwag
bist, weiter laß ich dich nich. Es muß alles seine Richtigkeit haben.«
    »Also
bitte. Die Parole ist >Rotes Sibirien<, die Antwort >Nieder mit den
Interventen<.«
    »Das ist
was anderes. Geh, wohin du willst. Welcher Schaitan treibt dich nachts um?
Gehst du zu Kranken?«
    »Ich kann
nicht schlafen und habe Durst. Da habe ich mir gedacht, ich geh ein bißchen
spazieren und steck mir Schnee in den Mund. Dann hab ich die Eberesche gesehen
und wollte von den gefrorenen Beeren nehmen.«
    »Wieder so
eine Herrenlaune, im Winter nach Beeren. Drei Jahre dreschen wir euch schon,
aber es ist euch nicht auszutreiben. Kein bißchen politisches Bewußtsein. Hol
dir deine Ebereschen, du Verrückter. Was kümmert's mich?«
    Der Posten
nahm Anlauf und glitt auf seinen langen pfeifenden Skiern immer schneller durch
den unberührten Schnee, weiter und immer weiter hinter die kahlen
Wintersträucher, die an spärlichen Haarwuchs erinnerten. Der Pfad, auf dem der
Arzt ging, führte ihn zu der Eberesche.
    Sie war
zur Hälfte verschneit, zur Hälfte voller gefrorener Blätter und Beeren, und
sie streckte ihm zwei verschneite Zweige entgegen. Er dachte an Laras runde,
zärtliche weiße Arme, ergriff die Zweige und zog den Baum zu sich herunter. Es
war wie eine Antwort, daß die Eberesche ihn von oben bis unten mit Schnee
bestäubte.
    »Komm her,
meine Schöne, meine Königin Eberesche mit den roten Beeren.«

Es war
eine klare Nacht. Der Mond schien. Doktor Shiwago drang weiter in die Taiga bis
zu seiner Fichte, grub seine Sachen aus und verließ das Lager.
     
    Dreizehnter Teil
     
    Gegenüber dem Haus mit den
Figuren
     
    Die
Bolschaja Kupetscheskaja-Straße führte hinunter zur Malaja Spasskaja-Straße und
zur Nowoswalotschny-Gasse. Auf sie blickten die Häuser und Kirchen der höher
gelegenen Stadtteile.
    An der
Ecke stand das dunkelgraue Haus mit den Figuren. Auf den mächtigen
Vierkantsteinen seines schrägen Fundaments klebten die neusten Nummern von Zeitungen,
Dekreten und Beschlüssen der Regierung. Häuflein von Passanten standen lange
davor auf dem Bürgersteig und lasen schweigend diese Literatur.
    Nach dem
kürzlichen Tauwetter herrschte Trockenheit. Es war leichter Frost, der sich
spürbar verstärkte. In den Stunden, in denen es noch vor kurzem dunkel gewesen
war, war es jetzt hell. Der Winter war unlängst zu Ende gegangen. Die Leere des
freigewordenen Raums war von Licht erfüllt, das sich bis in die Abende hinein
hielt. Es erregte, zog in die Ferne, ängstigte, stimmte mißtrauisch.
    Die Weißen
waren vor kurzem aus der Stadt abgezogen und hatten sie den Roten überlassen.
Beschießungen, Blutvergießen, kriegerische Unruhen waren vorüber. Auch das
ängstigte und stimmte mißtrauisch, so wie das Ende des Winters und die längeren
Frühlingstage.
    Die
Bekanntmachungen, die die Straßenpassanten im Licht des verlängerten Tages
lasen, lauteten etwa: »Der Bevölkerung zur Kenntnis. Arbeitsbücher für
Vermögende werden für 50 Rubel pro Stück in der
Lebensmittelabteilung des Jurjatiner Stadtsowjets ausgegeben,
Oktjabrskaja-Straße, ehemalige

Weitere Kostenlose Bücher