Boris Pasternak
müsse.
Wieder
stieg er die Treppe hinauf und öffnete mit dem Schlüssel Laras Wohnungstür. Auf
dem Treppenabsatz war es noch ganz hell und nicht ein bißchen dunkler als
vorher. Mit dankbarer Freude vermerkte er, daß ihn die Sonne nicht zur Eile
trieb.
Das Knirschen
des Schlüssels im Türschloß löste drinnen einen Aufruhr aus. Die menschenleere
Wohnung empfing ihn mit dem Klirren und Poltern umkippender und
herunterfallender Blechgefäße. Ratten platschten auf den Fußboden und stoben
auseinander. Dem Arzt wurde ganz schlecht vom Gefühl der Hilflosigkeit
gegenüber diesen abscheulichen Tieren, die sich hier wahrscheinlich in Unmassen
vermehrt hatten.
Ehe er
irgendeinen Versuch unternahm, sich für die Übernachtung einzurichten, beschloß
er, als erstes gegen diese Plage vorzugehen und, nachdem er ein leicht abteilbares
und gut verschließbares Zimmer ausgesucht hatte, die Rattenlöcher dort mit
Glasscherben und Eisenteilen zu verstopfen.
Aus der
Diele wandte er sich nach links, in den Teil der Wohnung, den er noch nicht kannte.
Nachdem er ein dunkles Durchgangszimmer passiert hatte, gelangte er in einen
hellen Raum mit zwei Fenstern zur Straße. Gegenüber sah er das dunkle Haus mit
den Figuren. Das Fundament war mit den Zeitungen beklebt. Passanten standen
mit dem Rücken zu ihm und lasen.
Das Licht
im Zimmer und draußen war genau das gleiche, es war das junge, frische
Abendlicht des beginnenden Frühlings. Die Gleichheit des Lichts drinnen und
draußen war so groß, als wäre das Zimmer nicht von der Straße abgetrennt. Nur einen
kleinen Unterschied gab es. In Laras Schlafzimmer, in dem Shiwago stand, war es
kälter als draußen in der Kupetscheskaja-Straße.
Als der
Arzt auf seinem letzten Tagesmarsch vor ein oder zwei Stunden die Stadt
erreichte und durchschritt, hatte er seine über die Maßen zunehmende Schwäche
als Vorzeichen einer drohenden Erkrankung gesehen und war erschrocken.
Jetzt
bereitete ihm die Gleichheit des Lichts im Hause und außerhalb eine ebenso
grundlose Freude. Die abgekühlte Luftsäule, die im Hof und in der Wohnung identisch
war, brachte ihn den abendlichen Straßenpassanten, den Stimmungen in der Stadt,
dem Leben auf der Welt näher. Seine Ängste verflogen. Er glaubte nicht mehr,
daß er erkranken werde. Die abendliche Durchsichtigkeit des allgegenwärtigen
Frühlingslichts dünkte ihn ein Unterpfand ferner und freigebiger Hoffnungen. Er
wollte gern glauben, daß alles gut ausgehen, er alles im Leben erreichen, seine
Lieben finden und versöhnen, alles zu Ende denken und zum Ausdruck bringen
würde. Und die Freuden des Wiedersehens mit Lara erwartete er als
bevorstehendes Unterpfand.
An die
Stelle seines Kräfteverfalls traten wahnsinnige Erregung und ungezügelte
Betriebsamkeit. Diese Belebung war ein noch sichereres Symptom der beginnenden
Krankheit als die Schwäche. Der Arzt fand keine Ruhe zum Sitzen. Es trieb ihn
wieder auf die Straße. Aus folgendem Anlaß.
Bevor er
sich hier häuslich niederließ, wollte er sich die Haare und den Bart scheren
lassen. Darum hatte er schon bei seinem Weg durch die Stadt nach den früheren
Frisiersalons Ausschau gehalten. Ein Teil von ihnen stand leer oder diente
jetzt anderen Zwecken. Andere, die noch ihre frühere Bestimmung hatten, waren
verschlossen. Wo sollte er sich die Haare schneiden und rasieren lassen? Ein
eigenes Rasiermesser besaß er nicht. Eine Schere, wenn sich bei Lara eine fand,
hätte ihm aus der Verlegenheit helfen können. Aber als er hastig ihr
Toilettentischchen durchsuchte, fand sich keine Schere.
Er entsann
sich, daß in der Malaja Spasskaja früher eine Schneiderwerkstatt gewesen war.
Wenn diese noch bestand, dort noch gearbeitet wurde und er es bis zur
Schließung schaffte, so dachte er, könnte er eine der Schneiderinnen um eine
Schere bitten. Noch einmal ging er hinaus auf die Straße.
Die
Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht. Die Werkstatt befand sich noch dort, und
es wurde gearbeitet. Sie nahm ein ebenerdiges Ladengeschäft ein und hatte ein
breites Schaufenster zur Straße. Durch das Fenster konnte man bis zur hinteren
Wand sehen. Die Schneiderinnen arbeiteten im Blickfeld der Straßenpassanten.
Drinnen
herrschte drangvolle Enge. Außer den Mitarbeiterinnen hatten sich dort
offenbar Amateurschneiderinnen eingefunden, ältere Damen aus der Jurjatiner Gesellschaft,
um ein Arbeitsbuch zu bekommen, von dem in dem Dekret an der Wand des Hauses
mit den Figuren die Rede war.
Ihre
Bewegungen
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