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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Zimmern zur Straße. Aber Du wirst es Dir
denken können. Im Haus ist viel Platz, alles verwahrlost, ich habe einen Teil
der Möbel verkaufen müssen. Ich lasse Dir ein wenig Essen da, vor allem
gekochte Kartoffeln. Beschwere den Kasserollendeckel mit einem Plätteisen oder
etwas anderem, damit die Ratten nicht daran können. Ich bin verrückt vor
Freude.«
    Damit
endete die Vorderseite des Briefes. Der Arzt bemerkte nicht, daß auch die
Rückseite beschrieben war. Er führte das entfaltete Blatt an die Lippen, legte
es dann zusammen, ohne es noch einmal anzusehen, und steckte es mit dem
Schlüssel in die Tasche. In seine wahnsinnige Freude mischte sich ein
furchtbarer, reißender Schmerz. Wenn sie ohne Zögern, ohne jeden Vorbehalt nach
Warykino gegangen war, konnte seine Familie nicht mehr dort sein. Außer der Unruhe,
die dies in ihm hervorrief, empfand er unerträglichen Schmerz und Kummer um die
Seinen. Warum hatte Lara sie mit keinem Wort erwähnt und sich nicht dazu
geäußert, wo sie waren, als ob sie nicht mehr existierten?
    Aber zum
Grübeln war keine Zeit. Draußen begann es zu dunkeln. Er mußte noch eine Menge
Dinge erledigen, solange es hell war, vor allem die draußen ausgehängten
Dekrete studieren. Es war eine schlimme Zeit. Für den Verstoß gegen irgendeine
obligate Bestimmung aus Unkenntnis konnte man mit dem Leben bezahlen. Ohne die
Tür zu öffnen und ohne den Sack von der wund gescheuerten Schulter zu nehmen,
ging er hinunter auf die Straße und trat zu der Wand, die auf einer großen
Fläche dicht an dicht mit bedruckten Blättern beklebt war.
     
    Da gab es
Zeitungsartikel, Redeprotokolle von Sitzungen und Dekrete. Shiwago überflog die
Schlagzeilen. Ȇber die Ordnung der Requirierungen und Besteuerungen der
besitzenden Klassen. Über die Arbeiterkontrolle. Über die Fabrik- und
Werkkomitees.« Es waren Anordnungen der neuen Macht in der Stadt, die an die
Stelle der bisherigen Ordnung getreten war. Sie erinnerte an die
Unantastbarkeit ihrer Grundlagen für den Fall, daß die Einwohner sie während
der zeitweiligen Verwaltung der Weißen vergessen hätten. Aber dem Arzt schwirrte
der Kopf von der Endlosigkeit dieser monotonen Wiederholungen. Aus welchen
Jahren stammten die Texte? Aus dem vorigen Jahr? Dem vorvorigen? Einmal im
Leben hatte er sich für die Entschiedenheit dieser Sprache und für die
Geradlinigkeit dieser Denkweise begeistert. Sollte er etwa für diese voreilige
Begeisterung damit bezahlen, daß er nie wieder etwas anderes zu sehen bekam als
diese über lange Jahre hinweg unveränderten blödsinnigen Aufrufe und Forderungen,
die mit der Zeit immer lebloser, unverständlicher, unausführbarer wurden? Hatte
er sich etwa mit seiner kurzzeitigen Sympathie für ewig ausgeliefert?
    Sein Blick
fiel auf ein irgendwo abgerissenes Stück eines Berichts. Er las:
    »Die
Informationen über die Hungersnot zeugen von einer unglaublichen Tatenlosigkeit
der örtlichen Organisationen. Fälle von Mißbrauch sind an der Tagesordnung,
die Spekulation ist ungeheuerlich, aber was hat das Büro der örtlichen
Gewerkschaftsorganisationen, was haben die Fabrik- und Werkkomitees in der
Stadt und der Region getan? Solange wir nicht massenhaft Durchsuchungen der
Speicher auf dem Jurjatiner Güterbahnhof, in den Bereichen Jurjatin-Raswilje
und Raswilje-Rybalka durchführen, solange wir nicht härteste Terrormaßnahmen
einleiten bis hin zur Erschießung der Spekulanten an Ort und Stelle, wird es
keine Rettung von der Hungersnot geben.«
    Welch
beneidenswerte Verblendung! dachte Juri Shiwago. Von was für Getreide kann die
Rede sein, wenn es Getreide in der Natur längst nicht mehr gibt? Was heißt denn
besitzende Klassen, was heißt Spekulanten? Die sind doch auf Grund früherer
Dekrete längst ausgerottet. Was für Bauern, was für Dörfer? Die existieren doch
gar nicht mehr. Wie kann man denn in solchem Maße seine eigenen Bestimmungen
und Maßnahmen vergessen, die längst keinen Stein mehr auf dem anderen gelassen
haben? Was für Menschen müssen das sein, die jahrein, jahraus in nicht
abkühlendem Fieberwahn über nicht existierende, längst erledigte Themen faseln
und nicht zur Kenntnis nehmen, was ringsum vorgeht!
    Dem Arzt
schwindelte der Kopf. Er verlor das Bewußtsein und sank auf den Bürgersteig
nieder. Als er wieder zu sich kam, halfen Leute ihm auf und boten ihm an, ihn
dorthin zu bringen, wohin er wollte. Er bedankte sich und schlug die Hilfe aus,
da er nur über die Straße

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