Boris Pasternak
das Herz. Leb wohl. Ich bekreuzige
Dich für die ganze unendliche Trennung, für die Prüfungen, die Ungewißheit, für
Deinen ganzen langen, langen, dunklen Weg. Ich habe Dir nichts vorzuwerfen,
nicht das geringste, gestalte Dein Leben, wie Du möchtest, nur daß es Dir gut
geht.
Vor der
Abreise aus dem furchtbaren und für uns so verhängnisvollen Ural habe ich
Larissa Fjodorowna für kurze Zeit kennengelernt. Ich habe ihr zu danken, sie
war bei mir, als es mir schlecht ging, und sie hat mir bei der Geburt geholfen.
Ich muß aufrichtig gestehen, sie ist ein guter Mensch, aber ich will nicht
heucheln, sie ist das genaue Gegenteil von mir. Ich bin dazu geboren, das
Leben zu vereinfachen und den richtigen Ausweg zu finden, sie aber, um es zu
erschweren und zu verwirren.
Leb wohl,
ich muß Schluß machen. Jemand kommt, um den Brief abzuholen, und ich muß
schleunigst packen. O Jura, Jura, mein lieber, teurer Mann, Vater meiner Kinder,
was ist das bloß? Wir werden uns ja niemals, niemals wiedersehen. Das habe ich
nun hingeschrieben, bist Du Dir über die Bedeutung dieser Worte klar? Verstehst
Du das, verstehst Du das? Man drängt mich, und das ist wie ein Zeichen, daß man
mich holen kommt, um mich zur Hinrichtung zu führen. Jura! Jura!«
Juri
Shiwago hob den geistesabwesenden, tränenlosen Blick, nirgendwohin gerichtet,
trocken vor Gram, leer vor Leid. Er sah nichts, erkannte nichts.
Draußen
schneite es. Der Wind trieb die Flocken schräg durch die Luft, immer schneller,
immer dichter, wie um auf diese Weise etwas nachzuholen, und der Arzt blickte
aus dem Fenster, als wäre das kein Schnee, sondern als lese er Tonjas Brief
weiter und als flögen dort nicht trockene Schneesternchen vorüber, sondern die
kleinen Zwischenräume weißen Papiers zwischen den kleinen schwarzen Buchstaben,
weiß, weiß, ohne Ende, ohne Ende.
Juri
Shiwago stöhnte auf und griff sich an die Brust. Er spürte, daß er in Ohnmacht
fiel, machte ein paar taumelige Schritte zum Sofa hin und sank besinnungslos
darauf nieder.
Vierzehnter Teil
Wieder in Warykino
Der Winter
war eingekehrt. In großen Flocken fiel Schnee. Doktor Shiwago kam vom
Krankenhaus nach Hause.
»Komarowski
ist da«, sagte Lara, die ihm in der Diele entgegenging, mit bedrückter,
heiserer Stimme. Sie sah verstört aus, als wäre sie geschlagen worden.
»Wo? Bei
wem? Ist er bei uns?«
»Natürlich
nicht. Er war am Morgen hier und wollte am Abend wiederkommen. Bald wird er
dasein. Er muß mit dir sprechen.«
»Weswegen
ist er gekommen?«
»Ich habe
nicht alles verstanden, was er sagte. Er ist hier auf der Durchreise nach dem
Fernen Osten und hat absichtlich einen Umweg über Jurjatin gemacht, um uns zu
sehen. Es geht ihm vor allem um dich und Pawluscha. Von euch beiden hat er viel
gesprochen. Er behauptet, wir drei, das heißt du, Pawluscha und ich, seien in
Lebensgefahr, und nur er könne uns retten, wenn wir auf ihn hören.«
»Ich gehe
weg. Ich will ihn nicht sehen.«
Lara brach
in Tränen aus, versuchte, vor ihm niederzuknien, seine Beine zu umklammern und
sich mit dem Kopf an sie zu pressen, doch er hinderte sie daran, hielt sie
gewaltsam fest.
»Bleib um
meinetwillen, ich flehe dich an. Ich habe von keiner Seite her Angst, mit ihm
unter vier Augen zu sprechen. Aber es belastet mich. Laß mich nicht mit ihm
allein. Außerdem ist er ein praktischer, erfahrener Mann. Vielleicht kann er
uns wirklich einen guten Rat geben. Dein Abscheu ihm gegenüber ist ganz
natürlich. Aber bitte, überwinde dich. Bleib hier.«
»Was hast
du bloß, mein Engel? Beruhige dich. Was machst du? Falle nicht auf die Knie.
Steh auf. Sei wieder fröhlich. Verscheuche die Gespenster, die dich verfolgen.
Er hat dir fürs ganze Leben Angst eingejagt. Ich bin ja bei dir. Wenn es sein
muß, wenn du es mir befiehlst, bringe ich ihn um.«
Eine halbe
Stunde später brach der Abend an. Es wurde stockdunkel. Schon seit einem halben
Jahr waren die Löcher im Fußboden verstopft. Der Arzt hatte unentwegt darauf
geachtet, ob neue entstanden, und sie sogleich geschlossen. Außerdem hatten sie
sich einen großen, puscheligen Kater angeschafft, der seine Zeit in regloser,
geheimnisvoller Beschaulichkeit verbrachte. Die Ratten hatten das Haus nicht
verlassen, aber sie waren vorsichtiger geworden.
In
Erwartung Komarowskis schnitt Lara Schwarzbrot von ihrer Ration und stellte
einen Teller mit ein paar gekochten Kartoffeln auf den Tisch. Der Besucher
sollte im Wohnzimmer der ehemaligen
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