Boris Pasternak
Brief ist durch ...zig Hände gegangen und aus
alter Bekanntschaft zu mir gelangt. Aus Moskau. Fünf Monate war er unterwegs.
Der Empfänger war nicht zu finden. Aber ich weiß, wer er ist. Er hat sich
einmal von mir rasieren lassen.«
Der Brief,
viele Seiten lang, zerdrückt, fleckig, geöffnet und in verblichenem Kuvert, kam
von Tonja. Es erreichte Juri Shiwago nicht, wie Lara ihm das Kuvert
aushändigte. Als er zu lesen begann, wußte er noch, in welcher Stadt er war und
in welchem Haus, doch während er las, ging ihm auch das verloren. Serafima kam
herein, grüßte und wollte sich gleich wieder verabschieden. Er antwortete
mechanisch, wie es sich gehörte, aber er beachtete sie nicht. Ihren Weggang
nahm er gar nicht wahr. Allmählich vergaß er immer mehr, wo er war und was ihn umgab.
»Jura«,
schrieb ihm seine Frau Tonja, »weißt Du, daß wir eine Tochter haben? Sie wurde
auf den Namen Mascha getauft, nach Deiner verstorbenen Mutter Maria
Nikolajewna.
Nun zu
etwas anderem. Eine Reihe angesehener Vertreter der Öffentlichkeit, Professoren
von der Partei der Kadetten und rechte Sozialisten, Melgunow, Kiesewetter,
Kuskow und noch ein paar andere, darunter auch mein Onkel Nikolai Gromeko, mein
Vater und wir als seine Familienangehörigen, werden aus Rußland verbannt.
Das ist
ein Unglück, besonders weil Du nicht da bist, aber wir müssen uns fügen und
können noch Gott danken für die milde Form der Austreibung in dieser schrecklichen
Zeit, es hätte ja auch viel schlimmer kommen können. Wenn Du Dich angefunden
hättest und hier wärst, würdest Du mit uns fahren. Aber wo steckst Du jetzt?
Ich schicke diesen Brief an die Adresse von Schwester Antipowa, sie wird ihn
Dir geben, wenn sie Dich findet. Mich quält die Ungewißheit, ob sie die
Maßnahme auch auf Dich ausdehnen, denn Du gehörst ja zu unserer Familie, wenn
Du Dich, falls es Dir beschieden ist, wieder anfindest, und ob Du wie wir alle
die Ausreisegenehmigung bekommst. Ich möchte glauben, daß Du lebst und Dich
wieder anfindest. Das sagt mir mein liebendes Herz, auf dessen Stimme ich
vertraue. Wenn Du wieder zum Vorschein kommst, werden sich die
Lebensbedingungen in Rußland möglicherweise etwas verbessert haben, und Du
kannst um eine Sondergenehmigung für eine Auslandsreise einkommen, dann werden
wir alle wieder beisammen sein. Aber während ich dies schreibe, kann ich nicht
daran glauben, daß es ein solches Glück geben wird.
Mein
Kummer besteht darin, daß ich Dich liebe, Du mich aber nicht. Ich versuche,
dahinterzukommen, warum das so ist, versuche diesen Umstand zu deuten, zu
rechtfertigen, ich grabe, wühle in mir, gehe unser ganzes Leben durch und
alles, was ich von mir weiß, und ich sehe den Anfang nicht und kann mich nicht
erinnern, was ich getan und womit ich dieses Unglück auf mich heraufbeschworen
habe. Du siehst mich irgendwie verkehrt, mit unguten Augen, entstellt wie in
einem Zerrspiegel.
Aber ich
liebe Dich. Ach, wie ich Dich liebe, wenn Du Dir das vorstellen könntest! Ich
liebe alles Besondere an Dir, alle Deine Vorzüge und Nachteile, alle Deine
gewöhnlichen Seiten, die mir in ihrer ungewöhnlichen Verbindung teuer sind, ich
liebe Dein beseeltes Gesicht, das ohne dies womöglich unschön wäre, ich liebe
Dein Talent und Deinen Verstand, die gleichsam den Platz der gänzlich fehlenden
Willenskraft besetzt halten. All das ist mir teuer, und ich kenne keinen
Menschen, der besser wäre als Du.
Aber ich
will Dir etwas sagen: Selbst wenn Du mir nicht so teuer wärst, selbst wenn Du
mir nicht so gut gefielest, selbst dann würde sich mir die traurige Wahrheit
meiner Kälte nicht erschließen, selbst dann würde ich glauben, Dich zu lieben.
Allein aus Angst davor, welch erniedrigende, vernichtende Strafe es ist, nicht
zu lieben, würde ich unbewußt die Erkenntnis verdrängen, daß ich Dich nicht
liebe. Weder ich noch Du würden es jemals erfahren. Mein eigenes Herz würde es
vor mir verbergen, denn Nichtliebe ist beinahe wie Mord, und diesen Schlag
würde ich niemandem zufügen können.
Zwar ist
noch nichts endgültig entschieden, doch voraussichtlich werden wir nach Paris
fahren. Ich werde die fernen Gegenden sehen, die Du als Junge erlebt hast und
wo mein Vater und mein Onkel aufgewachsen sind. Mein Vater läßt Dich grüßen.
Saschenka ist schon groß, nicht unbedingt schön, aber ein großer, kräftiger
Junge. Wenn Du erwähnt wirst, weint er jedesmal bitter und untröstlich. Ich
kann nicht mehr. Von den Tränen bricht mir
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