Boris Pasternak
aber
ich mag nicht die vorösterlichen Lesungen in dieser Richtung - Zügelung der
Sinnlichkeit und Abtötung des Fleisches. Ich denke mir immer, diese groben,
platten Gebete, denen die Poesie der anderen geistlichen Texte fehlt, müssen
von fetten, dickwänstigen Mönchen geschrieben sein. Dabei geht es gar nicht
darum, daß sie selbst nicht nach den Regeln lebten und andere täuschten.
Vielleicht haben sie sogar nach ihrem Gewissen gelebt. Nicht um sie geht es,
sondern um den Inhalt dieser Texte. Die traurigen Redensarten verleihen den
Schwächen des Körpers und dem Umstand, ob er wohlgenährt oder ausgezehrt ist,
eine übermäßige Bedeutung, die ihnen nicht zukommt. Scheußlich ist das. Eine
schmutzige, bedeutungslose Zweitrangigkeit ist auf eine ungebührliche, ihr
nicht zustehende Höhe gehoben. Entschuldigen Sie, daß ich die Hauptsache so
hinausziehe. Gleich werde ich Sie für meine Langatmigkeit entschädigen.
Mich hat
schon immer beschäftigt, warum die Erwähnung Magdalenas erst unmittelbar vor
dem Osterfest geschieht, an der Schwelle von Christi Tod und Christi Auferstehung.
Ich kenne die Gründe nicht, aber die Erinnerung daran, daß dies Leben ist,
kommt zeitlich so passend im Moment des Abschieds vom Leben und in der Vorahnung
seiner Wiederkehr. Jetzt hören Sie, mit welch wirklicher Leidenschaft, mit
welch rücksichtsloser Direktheit diese Erwähnung geschieht.
Es gibt
einen Streit darüber, ob das Magdalena ist oder Maria von Ägypten oder
irgendeine andere Maria. Wie dem auch sei, sie bittet den Herrn: >Löse mich
von meiner Schuld, so wie ich meine Haare löse.< Wie stofflich ist der Durst
nach Vergebung, nach Reue ausgedrückt! Man kann es mit den Händen greifen.
Und ein
ähnlicher Ausruf in einem anderen Troparion auf den gleichen Tag, noch
ausführlicher, mit dem unzweifelhaft Magdalena gemeint ist.
Hier
trauert sie mit schrecklicher Spürbarkeit um die Vergangenheit, darum, daß jede
Nacht die früheren tiefverwurzelten Empfindungen in ihr weckt. >Kaum wird
es Nacht, so entzündet sich in mir ungezügelte Begierde, der finstere und
mondlose Drang nach Sünde.< Sie bittet Christus, ihre Reuetränen anzunehmen
und sich zu ihren Herzensklagen herabzuneigen, damit sie seine reinen Füße mit
ihren Haaren trocknen kann, Haaren, in deren Rascheln sich einst im Paradies
die bestürzte und beschämte Eva hüllte. >Ich will liebkosen Deine reinen Füße
und sie trocknen mit den Haaren meines Hauptes, so wie Eva im Paradies sich
angstvoll in ihr rauschendes Haar hüllte.< Und dann bricht plötzlich der
Ausruf hervor: >Meiner Sünden sind viele, doch wer erforscht deine
abgrundtiefen Schicksale?< Welche Kürze, welche Gleichsetzung von Gott und
Leben, Gott und Persönlichkeit, Gott und Frau!«
Doktor
Shiwago war müde vom Bahnhof zurückgekommen. Es war sein freier Tag in der
Dekade. Gewöhnlich schlief er sich an diesen Tagen für die ganze Woche aus.
Zurückgelehnt saß er auf dem Sofa, nahm zeitweilig eine halb liegende Stellung
ein oder streckte sich ganz aus. Obwohl er Serafima nur im Halbschlaf hörte,
bereiteten ihm ihre Ausführungen Vergnügen. Natürlich hat sie das alles von
Onkel Nikolai, dachte er. Aber wie klug und begabt sie ist!
Er sprang
vom Sofa auf und trat ans Fenster. Es blickte in den Hof wie auch das
Nebenzimmer, in dem Lara und Serafima jetzt leise flüsterten.
Das Wetter
hatte sich verschlechtert. Draußen war es dunkel. In den Hof flogen zwei
Elstern und suchten nach einer Stelle, wo sie sich setzen konnten. Der Wind plusterte
ihr Gefieder. Sie setzten sich auf den Deckel des Müllkastens, flogen hinüber
zum Zaun, dann auf die Erde und spazierten im Hof herum.
Elstern
bedeuten Schnee, dachte Juri Shiwago. In diesem Moment hörte er durch die
Portiere: »Elstern bedeuten eine Nachricht«, sagte Serafima zu Lara. »Jemand
will Sie besuchen. Oder Sie kriegen einen Brief.«
Bald
darauf läutete an der Wohnungstür das Glöckchen am Draht, das Shiwago kurz
zuvor in Ordnung gebracht hatte. Lara kam hinter der Portiere hervor und ging
mit raschen Schritten in die Diele, um zu öffnen. Nach dem, was sie an der Tür
sagte, erkannte der Arzt, daß Serafimas Schwester Glafira gekommen war.
»Sie
wollen Ihre Schwester abholen?« fragte Lara. »Serafima ist bei uns.«
»Eigentlich
nicht. Aber wenn sie nach Hause will, können wir ja zusammen gehen. Nein, ich
habe hier einen Brief für Ihren Freund. Er kann von Glück sagen, daß ich früher
bei der Post gearbeitet habe. Der
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