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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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diesen Moment vorweg auskostend, tonlos und ohne
Besinnung, stieß die kaum atmenden Laute aus der Brust in die abendliche
Frostluft. »Leb wohl, einzig Geliebte, für immer Verlorene!«
    »Da sind
sie! Da sind sie!« flüsterten seine weißen Lippen hastig, als der Schlitten
pfeilgeschwind an den Birken vorüber bergan sauste, langsamer wurde und, o
Freude, bei der letzten Birke hielt.
    Oh, wie
schlug ihm das Herz, die Beine gaben nach, vor Erregung wurde er weich wie
Filz, wie der von der Schulter gleitende Pelz! O Gott, hast du etwa
beschlossen, sie mir zurückzugeben? Was ist dort geschehen? Was geht vor auf
dem fernen abschüssigen Weg? Warum halten sie? Nein, sie sind weg.
Verschwunden. Weitergebraust. Sie wird ihn gebeten haben, einen Moment zu
halten, um noch einen Abschiedsblick auf das Haus zu werfen. Vielleicht wollte
sie sich auch vergewissern, ob ich schon losgefahren bin und ihnen
hinterherjage. Sie sind weg. Sie sind weg.
    Wenn sie
rasch fuhren, würden sie, ehe die Sonne sank (bei Dunkelheit würde er sie nicht
sehen können), noch einmal in Sicht kommen, ein letztes Mal, jenseits der
Schlucht, auf der Lichtung, wo in der vorletzten Nacht die Wölfe gestanden
hatten.
    Nun war
dieser Moment gekommen. Die dunkelrote Sonne stand noch rund über der blauen
Linie der Schneeverwehungen. Gierig saugte der Schnee die Ananassüße ein, die
sie über ihn ausgoß. Und da war der Schlitten, er sauste vorüber. Leb wohl,
Lara, auf Wiedersehen in der anderen Welt, leb wohl, meine Schöne, leb wohl,
mein Glück, du warst so unendlich tief, unerschöpflich, ewig! Ich sehe dich nie
wieder, niemals, nie im Leben, niemals sehe ich dich wieder!
    Es war
dunkel geworden. Die über den Schnee verstreuten bronzeroten Lichtflecke des
Sonnenuntergangs verblichen rasch und erloschen. Die aschgraue Weichheit des
Raums senkte sich herab in die fliederblaue Dämmerung, die immer violetter
wurde. Mit ihrem grauen Dunst verschmolz das feine Filigranwerk der Birken am
Weg, das wie mit der Hand auf den blaßrosa, gleichsam versandeten Himmel
gezeichnet schien.
    Das
Herzeleid schärfte Shiwagos Empfinden. Er nahm alles mit zehnfacher
Deutlichkeit wahr. Die ganze Umgebung, sogar die Luft gewann Züge einer
seltenen Einmaligkeit. Teilnahmsvoll wie nie zuvor, atmete der Winterabend
wie ein mitfühlender Zeuge. Es schien, als wäre es nie zuvor Nacht geworden,
heute das erstemal, als Trost für den verwaisten, vereinsamten Menschen. Es
schien, als stünden die umliegenden Wälder nicht einfach so als Panorama auf
den Hügeln, sondern hätten dort eben erst Aufstellung genommen, um ihr Mitleid
zu bekunden.
    Shiwago
wehrte sie beinahe ab, die fühlbare Schönheit dieser Stunde, wie eine Menge
aufdringlicher Kondolenten, und er war drauf und dran, den letzten
Lichtstrahlen zuzuflüstern: Danke, nicht nötig.
    Er stand
noch immer auf der Vortreppe, das Gesicht der geschlossenen Tür zugewandt, der
Welt abgekehrt. Meine helle Sonne ist untergegangen, sagte etwas in ihm immer
wieder. Er hatte nicht die Kraft, diese Worte nacheinander auszusprechen,
seine Kehle war wie zugeschnürt.
    Er ging
ins Haus. Ein doppelter Monolog begann und vollzog sich in ihm: trocken,
scheinbar sachlich in bezug auf sich selbst, und dahinfließend, uferlos in
bezug auf Lara: Jetzt nach Moskau. Vor allem überleben. Die Schlaflosigkeit
bekämpfen. Nicht schlafen gehen. Nächtelang arbeiten bis zur Benommenheit, bis
die Müdigkeit totenähnlichen Schlaf bringt. Und noch etwas. Sofort im
Schlafzimmer heizen, um nicht nachts unnötig zu frieren.
    Aber auch
so sprach er mit sich selbst: Du meine unvergeßliche Herzensfreude! Solange
meine Arme dich erinnern, solange meine Hände und Lippen dich spüren, bin ich
mit dir zusammen. Meine Tränen um dich sollen etwas Würdiges, Bleibendes
hervorbringen. Ich werde die Erinnerung an dich in einer sehr zarten,
bedrückend traurigen Darstellung festhalten. Ich bleibe hier, bis ich das
getan habe. Dann fahre auch ich weg. Und so will ich dich zeichnen: Ich werde
deine Züge aufs Papier bringen, wie nach einem furchtbaren Sturm, der das Meer
bis zum Grunde aufgewühlt hat, die Spuren der stärksten, am weitesten
vorgerollten Welle sich in den Sand legen. In einer gebrochenen, geschlängelten
Linie wirft das Meer Bimsstein, Korken, Muscheln, Wasserpflanzen an Land, all
das Leichte, Gewichtslose, was es vom Grunde hochholen konnte. Das ist die
endlos sich in die Ferne ziehende Grenzlinie der stärksten Brandungswelle am
Ufer. So hat

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