Boris Pasternak
der Sturm des Lebens dich zu mir geschleudert, du mein Stolz. So
will ich dich darstellen.
Er ging
also ins Haus, verschloß die Tür, legte den Pelz ab. Als er in das Zimmer trat,
das Lara am Morgen so schön und so fleißig aufgeräumt und das die überstürzte
Abreise wieder in Unordnung gebracht hatte, als er das zerwühlte Bett und die
herumliegenden Gegenstände auf dem Fußboden und auf den Stühlen sah, sank er
wie ein kleiner Junge vor dem Bett auf die Knie, preßte die Brust an die harte
Kante, legte das Gesicht in das herabhängende Federbett und weinte
kindlichleicht und bitterlich. Das dauerte nicht lange. Shiwago stand auf,
wischte rasch die Tränen weg, blickte verwundert, zerstreut, müde, abwesend in
die Runde, nahm die von Komarowski zurückgelassene Flasche, entkorkte sie, goß
ein Glas halbvoll, fügte Wasser hinzu, rührte Schnee hinein und trank dieses
Gemisch mit einem Genuß, der den soeben vergossenen untröstlichen Tränen fast
gleichkam, in langsamen, gierigen Zügen.
Mit Juri
Shiwago ging etwas Sonderbares vor. Er verlor langsam den Verstand. Noch nie
hatte er ein so seltsames Leben geführt. Er vernachlässigte das Haus, kümmerte
sich nicht mehr um sich, verwandelte die Nächte in Tage und verlor das Gefühl
für die Zeit, die seit Laras Abreise vergangen war.
Er trank
und schrieb Texte, die ihr gewidmet waren, aber die Lara seiner Gedichte und
Aufzeichnungen entfernte sich durch seine Streichungen und Wortänderungen
immer weiter von ihrem eigentlichen Urbild, von der lebendigen Mutter Katenkas,
die mit ihrer Tochter auf der Reise war.
Die
Streichungen nahm er der Genauigkeit und der Ausdruckskraft wegen vor, aber sie
entsprachen auch Eingebungen seiner inneren Zurückhaltung, die es ihm nicht
erlaubte, das persönlich Erlebte und nicht ausgedachte Vergangene gar zu offen
bloßzulegen, um die unmittelbar Beteiligten nicht zu verletzen. So wurde das
Lebendige, Frische, nicht Abgekühlte aus den Gedichten verbannt, und statt des
Blutenden und Schmerzhaften in ihnen zeigte sich befriedete Weite, die den
privaten Vorfall zu bekannter Allgemeingültigkeit erhob. Dieses Ziel hatte er
nicht erreichen wollen, aber die Weite kam von selbst als Trost, den sie ihm
persönlich als fernen Gruß von der Reise schickte, kam wie ihr Erscheinen im
Traum oder wie eine Berührung ihrer Hand an seiner Stirn. Und er liebte in den
Gedichten dieses veredelnde Gepräge.
Nach den
Klageliedern um Lara schrieb er seine Aufzeichnungen aus verschiedenen Zeiten
über alles mögliche zu Ende, über die Natur, über Alltagsdinge. Wie auch
früher schon, flogen ihm bei dieser Arbeit nebenbei viele Gedanken über sein
eigenes Leben und über das Leben der Gesellschaft zu.
Wieder
wurde ihm bewußt, daß er sich die Geschichte, das, was man den Lauf der
Geschichte nennt, anders als üblich vorstellte, nämlich so ähnlich wie das
Leben der Pflanzenwelt. Im Winter sehen die kahlen Zweige des Laubwaldes im
Schnee dürr und jämmerlich aus wie Haare auf der Warze eines Greises. Im
Frühjahr verwandelt sich der Wald in wenigen Tagen, steigt bis zu den Wolken
auf, und in seinem Dickicht aus Laub kann man sich verlieren und verstecken.
Diese Verwandlung geschieht durch eine Bewegung, die an Schnelligkeit die
Bewegungen der Tiere übertrifft, denn ein Tier wächst nicht so schnell wie eine
Pflanze, und es ist eine Bewegung, die man niemals beobachten kann. Der Wald
rührt sich nicht von der Stelle, wir können ihn bei keiner Ortsveränderung
ertappen. Wir sehen ihn immer nur in Reglosigkeit. In der gleichen Reglosigkeit
sehen wir das ewig wachsende, ewig sich verändernde, in seinen Verwandlungen
nicht beobachtbare Leben der Gesellschaft, die Geschichte.
Tolstoi
hat seinen Gedanken nicht zu Ende geführt, als er Napoleon, Regenten,
Feldherren die Bahnbrecherrolle absprach. Er dachte so, sprach es aber nicht
mit letzter Klarheit aus. Die Geschichte wird von niemandem gemacht, sie ist
ebensowenig zu sehen wie das Wachsen des Grases. Kriege, Revolutionen, Zaren,
Robespierres sind ihre organischen Erreger, ihre Gärhefe. Revolutionen werden
von aktiven, einseitigen Fanatikern gemacht, von Genies der Selbstbeschränkung.
Diese stürzen in wenigen Stunden oder Tagen eine alte Ordnung um. Solche Umschwünge
dauern Wochen oder Jahre, und hinterher verbeugt man sich jahrzehnte-,
jahrhundertelang vor dem Geist der Beschränkung, der den Umschwung herbeigeführt
hat, wie vor einem Heiligtum.
In seinen
Klageliedern um Lara
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