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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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beweinte er auch den fernen Sommer in Meljusejew, in dem
die Revolution noch der vom Himmel auf die Erde herabgestiegene Gott war, der
Gott jenes Sommers, in dem jeder auf seine Weise verrückt war und das Leben
jedes Menschen für sich selbst existierte, nicht aber als Erläuterung,
Illustration und Rechtfertigung der hohen Politik.
    Bei seinen
Aufzeichnungen über die verschiedensten Dinge prüfte und vermerkte er wieder
einmal, daß die Kunst immer der Schönheit zu dienen habe, daß Schönheit das
Glück der Formbeherrschung sei, die Form aber der organische Schlüssel des
Daseins, daß alles Lebende einer Form bedürfe, um zu existieren, und daß somit
die Kunst, auch die tragische Kunst, vom Glück des Daseins erzähle. Diese
Überlegungen und Aufzeichnungen bescherten ihm auch ein Glück, das tragisch
und voller Tränen war, so daß er davon ermüdete und Kopfschmerzen bekam.
    Einmal
besuchte ihn Anfim Samdewjatow. Er brachte Wodka mit und erzählte ihm von der
Abreise Larissa Antipowas mit ihrer Tochter in Begleitung Komarowskis.
Samdewjatow war mit einer Draisine auf dem Eisenbahngleis gekommen. Er schalt
den Arzt, der das Pferd schlecht versorgt hatte, und nahm es mit, obwohl
Shiwago ihn bat, es ihm noch ein paar Tage zu lassen. Statt dessen versprach
er, ihn nach Ablauf dieser Frist abzuholen und endgültig von Warykino
wegzubringen.
    Manchmal,
wenn Shiwago lange geschrieben und gearbeitet hatte, erinnerte er sich plötzlich
mit aller Deutlichkeit an Lara und verlor den Kopf vor Zärtlichkeit und
Schmerz über den Verlust. Wie in seiner Kindheit, wenn er in der Pracht der
sommerlichen Natur im Gezwitscher der Vögel die Stimme seiner verstorbenen
Mutter zu hören glaubte, täuschte ihn jetzt manchmal sein an Lara und ihre
Stimme gewohntes Gehör. »Jura«, glaubte er dann aus dem Nebenzimmer zu hören,
eine akustische Halluzination.
    In dieser
Woche widerfuhren ihm auch andere Fälle von Sinnestäuschungen. Am Ende der
Woche erwachte er auf einmal nachts nach einem schweren, unsinnigen Traum von
einer Drachenhöhle unter dem Haus. Er öffnete die Augen. Plötzlich zuckte ein
Feuerschein über den Boden der Schlucht, und er hörte den nachhallenden Knall
eines Schusses. Erstaunlich, daß Shiwago nach diesem ungewöhnlichen Vorfall
gleich wieder einschlief. Am Morgen glaubte er, geträumt zu haben.
     
    Und dies
geschah etwas später. Doktor Shiwago hörte endlich auf die Stimme der Vernunft.
Er sagte sich, wenn er sich schon um jeden Preis ruinieren wolle, könne er sich
auch eine wirksamere und weniger quälende Methode aussuchen. Er gab sich selbst
das Wort, wenn Samdewjatow ihn abholen komme, sofort mit ihm abzureisen.
    Vor der
Abenddämmerung, als es noch hell war, hörte er laut knirschende Schritte im
Schnee. Jemand kam in forschem, entschlossenem Gang ruhig auf das Haus zu.
    Merkwürdig.
Wer konnte das sein? Samdewjatow wäre mit dem Pferd gekommen. Zufällige
Passanten gab es nicht in dem menschenleeren Warykino. Ich werde abgeholt,
dachte der Arzt. Eine Aufforderung, in die Stadt zu kommen. Oder ich soll
verhaftet werden. Aber womit wollen sie mich in die Stadt bringen? Sie würden
auch zu zweit kommen. Es muß Awerki Mikulizyn sein, mutmaßte er erfreut,
nachdem er den Besucher an seinem Gang erkannt zu haben glaubte. Der Mann, der
noch ein Rätsel war, stand ein Weilchen vor der Tür mit dem abgerissenen
Riegel, an dem er nicht das Vorhängeschloß fand, dann ging er mit sicheren
Schritten und wissenden Bewegungen wie der Hausherr weiter, öffnete die Haustür
und schloß sie sorglich hinter sich.
    Diese
Merkwürdigkeiten erlebte Shiwago am Schreibtisch, an dem er mit dem Rücken zur
Tür saß. Als er vom Stuhl aufstand und sich der Tür zuwandte, um den Fremden
zu sehen, stand dieser bereits wie angewurzelt auf der Schwelle.
    »Zu wem
wollen Sie?« entfuhr es dem Arzt so unbewußt, daß die Frage zu keiner Antwort
verpflichtete, und als sie dann auch ausblieb, wunderte er sich nicht.
    Der
Eingetretene war ein kräftiger, stattlicher Mann mit schönem Gesicht, er trug eine
kurze Pelzjoppe, eine Pelzhose und warme Stiefel aus Ziegenfell und hatte ein
Gewehr am Riemen über der Schulter.
    Nur der
Moment seines Erscheinens war eine Überraschung für Juri Shiwago, nicht aber
sein Kommen. Die Funde im Haus und andere Anzeichen hatten ihn auf diese
Begegnung vorbereitet. Der Ankömmling war offensichtlich der Mann, dem die
Vorräte im Haus gehörten. Er kam dem Arzt bekannt vor. Der Mann war

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