Boris Pasternak
offenbar
auch darauf gefaßt gewesen, daß das Haus nicht leer stand, denn er wunderte
sich kaum über den Bewohner. Vielleicht war ihm gesagt worden, wen er darin
vorfinden würde. Vielleicht kannte er den Arzt.
Wer ist
das? Wer ist das? Shiwago suchte mühsam in seinem Gedächtnis. Herr du mein
Gott, wo habe ich den schon gesehen? Ist es die Möglichkeit? Ein heißer Maimorgen
vor Urzeiten. Bahnstation Raswilje. Der Waggon des Kommissars, der nichts Gutes
verhieß. Klarheit der Begriffe, Geradlinigkeit, Prinzipienstrenge, Selbstgerechtigkeit,
Selbstgerechtigkeit. Strelnikow!
Sie
unterhielten sich schon geschlagene Stunden, wie nur russische Menschen in
Rußland sich unterhalten können, insbesondere wenn es verängstigte und
sehnsüchtige, wutgeladene und überspannte Menschen sind, und das waren damals
alle. Es wurde Abend. Die Dunkelheit brach herein.
Nicht nur
aus unruhiger Redseligkeit, die Strelnikow mit allen teilte, sprach er
unentwegt, er hatte auch noch einen anderen, persönlichen Grund.
Er hatte
sich nie richtig aussprechen können und klammerte sich nun an die Unterhaltung
mit Doktor Shiwago, um der Einsamkeit zu entgehen. Fürchtete er Gewissensbisse
oder traurige Erinnerungen, die ihn verfolgten, oder peinigte ihn
Unzufriedenheit mit sich, die den Menschen sich selbst unausstehlich und
verhaßt macht und bereit, vor Scham zu sterben? Oder hatte er einen
furchtbaren, unabänderlichen Entschluß gefaßt, mit dem er nicht allein bleiben
und dessen Ausführung er möglichst lange hinausschieben wollte durch das Reden
mit dem Arzt?
Wie auch
immer, Strelnikow verbarg ein wichtiges, ihn belastendes Geheimnis, als er sich
über alles andere mit geradezu verschwenderischen Herzensergüssen ausließ.
Es war die
Krankheit des Jahrhunderts, der revolutionäre Aberwitz der Epoche. In ihren
Gedanken waren die Menschen anders als in ihren Worten und in ihren äußeren
Erscheinungen. Niemand hatte ein reines Gewissen. Jeder konnte sich
begründetermaßen an allem schuldig fühlen, als heimlicher Verbrecher, als nicht
entlarvter Betrüger. Kaum gab es einen Anlaß, erreichte die schwelgerische,
selbstbezichtigende Einbildungskraft die letzten Grenzen. Die Menschen
phantasierten, beschuldigten sich nicht nur aus Angst, sondern auch aus einer
zerstörerischen, krankhaften Neigung, freiwillig, in einem Zustand
metaphysischer Trance und leidenschaftlicher Selbstzerfleischung, der man nur
die Zügel zu lockern brauchte, um sie unaufhaltsam zu machen.
Wie viele
solcher Aussagen vor dem Tode, schriftlich und mündlich, hatte der große
Militär und zeitweilige Militärrichter Strelnikow seinerzeit gelesen und
gehört. Jetzt war auch er besessen von einem ähnlich gearteten Zustand der
Selbstentlarvung, wobei er sich gewaltig überschätzte, als er Bilanz zog, und
alles in einer fieberhaften Verzerrung sah.
Er
erzählte ungeordnet, sprang von Geständnis zu Geständnis.
»Das war bei
Tschita. Sie haben sich gewundert über die Kinkerlitzchen, mit denen ich die
Schränke und Schubkästen in diesem Hause vollgestopft habe? Stammt alles aus
militärischen Requirierungen, die wir bei der Einnahme Ostsibiriens durch die
Rote Armee vorgenommen haben. Natürlich habe ich das alles nicht selber hergeschleppt.
Das Leben hat mich immer verwöhnt mit treuen, zuverlässigen Menschen. Kerzen,
Kaffee, Tee, Streichhölzer, Schreibutensilien und das sonstige Zeug stammten
aus tschechischen Militärbeständen, zum Teil auch aus japanischen und
englischen. Unglaublich, stimmt es nicht? >Stimmt es nicht?< war der
Lieblingsausdruck meiner Frau, das wird Ihnen aufgefallen sein. Ich wußte
nicht, ob ich Ihnen das gleich sagen soll, aber jetzt will ich es gestehen. Ich
bin gekommen, um sie und die Tochter zu sehen. Man hat mich zu spät wissen
lassen, daß sie hier sind. Ich bin zu spät gekommen. Als ich aus Klatsch und
Meldungen erfuhr, daß Sie ihr nahestehen, und man mir das erste Mal den Namen
Doktor Shiwago nannte, hatte ich unter den Tausenden Gesichtern, die in diesen
Jahren an mir vorbeigezogen sind, unglaublicherweise sofort den Mann vor
Augen, der mir zum Verhör vorgeführt wurde.«
»Und Sie
haben bedauert, ihn nicht erschossen zu haben?«
Strelnikow
ließ diese Frage unbeachtet. Vielleicht hatte er den Einwurf gar nicht gehört.
Zerstreut und nachdenklich sprach er weiter: »Natürlich war ich eifersüchtig
und bin es auch jetzt noch. Könnte es anders sein? In der hiesigen Gegend
verstecke ich mich erst seit ein paar
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