Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
Vom Netzwerk:
außer
Leid, hätten wir sie nie beleidigen können, weil wir selber noch größere
Märtyrer waren als sie.
    Aber bevor
ich weiterspreche, fühle ich mich verpflichtet, Ihnen folgendes zu sagen. Sie
müssen hier so schnell wie möglich weg, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Der Ring
um mich zieht sich immer enger zusammen, und wie es auch enden mag, man wird
Sie in die Sache verwickeln, Sie sind allein schon dadurch schuldig, daß Sie
mit mir sprechen. Außerdem sind hier viele Wölfe, ich habe vor ein paar Tagen
auf sie geschossen.«
    »Ach, Sie
waren das?«
    »Ja. Sie
haben es natürlich gehört? Ich war auf dem Weg zu einem andern Unterschlupf,
aber ich bin umgekehrt, als ich an verschiedenen Merkmalen erkannte, daß er
enttarnt und die Leute dort sicherlich umgekommen waren. Ich bleibe nicht lange
bei Ihnen, nur die eine Nacht, am Morgen gehe ich weg. Und nun will ich mit
Ihrer Erlaubnis fortfahren.
    Gab es die
Stutzer aus den Twerskije-Jamskije-Straßen, die mit ihren Mädchen in Kutschen
herumsausten, mit schief aufgesetzten Mützen und Hosen mit Fußband, gab es die
denn nur in Moskau, nur in Rußland? Die Straße, die abendliche Straße, die
abendliche Straße des Jahrhunderts, die Traber, die Falben waren überall. Was
einte die Epoche, was machte das neunzehnte Jahrhundert zu einem einheitlichen
historischen Abschnitt? Die Geburt der sozialistischen Idee. Revolutionen
fanden statt, opferbereite junge Menschen gingen auf die Barrikaden. Die
Publizisten zerbrachen sich den Kopf, wie die tierische Unverschämtheit des
Kapitals zu zügeln, wie die menschliche Würde der Armen zu heben, zu
verteidigen wäre. Der Marxismus kam. Er fand die Wurzel des Übels und das
Mittel zu seiner Heilung. Er wurde die mächtige Kraft des Jahrhunderts. Das
alles war die Zeit der Twerskije-Jamskije-Straßen,
war Schmutz, strahlende Heiligkeit, Ausschweifung, Arbeiterviertel,
Proklamationen und Barrikaden. Ach, wie schön war sie als junges Mädchen, als
Gymnasiastin! Sie können sich das nicht vorstellen. Oft besuchte sie ihre
Schulfreundin in dem Haus, in dem die Angestellten der Moskau—Brester Eisenbahn
wohnten. So hat diese Strecke anfangs geheißen, später wurde sie ein paarmal
umbenannt. Mein Vater, heute Mitglied des Jurjatiner Tribunals, war damals
Streckenmeister auf dem Bahnhof. Ich ging oft dorthin und bin ihr so manches
Mal begegnet. Sie war noch ein kleines Mädchen, ein Kind, aber das aufgestörte
Denken, die Unruhe des Jahrhunderts war schon in ihrem Gesicht, in ihren Augen.
Alle Themen der Zeit, alle ihre Tränen und Demütigungen, alle ihre Impulse,
ihre angestaute Rachsucht, ihr Stolz waren ihrem Gesicht, ihrer Haltung, dem
Gemisch ihrer mädchenhaften Scham und kühnen Schönheit abzulesen. Die Anklage
gegen das Jahrhundert konnte in ihrem Namen, mit ihrem Mund vorgebracht werden.
Sie müssen zugeben, das ist nicht wenig. Zu so etwas ist man vorbestimmt,
vorgeprägt. Das muß man von Natur aus mitbringen, dazu muß man ein Recht
haben.«
    »Sie
sprechen sehr schön von ihr. Ich habe sie in der gleichen Zeit gesehen, und sie
war genauso, wie Sie sie beschreiben. Sie war Gymnasiastin und zugleich Heldin
eines unkindlichen Geheimnisses. Ihr Schatten an der Wand war eine Bewegung
hellhörigen Selbstschutzes. So habe ich sie gesehen. So habe ich sie in
Erinnerung. Sie haben das verblüffend gut ausgedrückt.«
    »Sie haben
sie gesehen und erinnern sich? Was haben Sie denn dazu getan?«
    »Das ist
eine ganz andere Frage.«
    »Also,
schauen Sie, dieses ganze neunzehnte Jahrhundert mit seinen Revolutionen in
Paris, mehrere Generationen russischer Emigration seit Alexander Herzen, alle
geplanten Zarenmorde, ob ausgeführt oder nicht, die gesamte Arbeiterbewegung
der Welt, der ganze Marxismus in den Parlamenten und Universitäten von Europa,
das ganze neue System von Ideen, die Neuartigkeit und Schnelligkeit der
Schlußfolgerungen, die Spottlust, die um der Barmherzigkeit willen
herausgearbeitete helfende Erbarmungslosigkeit, all das hat Lenin in sich
aufgenommen und verallgemeinert, um als verkörperte Vergeltung für alles
Geschehene über das Alte herzufallen.
    An seiner
Seite erhob sich unauslöschlich das gewaltige Bild Rußlands, das vor den Augen
der ganzen Welt plötzlich aufflammte als Licht der Erlösung für alles Elend,
alle Mißlichkeiten der Menschheit. Aber wozu sage ich Ihnen das alles? Für Sie
ist das ja doch nur leeres Wortgeklingel.
    Um dieses
Mädchens willen besuchte ich die Universität, um

Weitere Kostenlose Bücher