Boris Pasternak
kindliche Begeisterung für sie ungehindert zeigen, ohne Furcht, dafür
verlacht zu werden.
Kaum war Lara bewußt, welchen
Einfluß sie auf ihn hatte, begann sie ihn unbewußt auszunutzen. Der ernsthaften
Formung seines sanften, nachgiebigen Charakters widmete sie sich später mehrere
Jahre in der Zeit ihrer Freundschaft, als er schon wußte, wie sehr er sie
liebte und daß er im Leben nie mehr von ihr loskam.
Die Jungen spielten ein
schreckliches Spiel, ein Spiel der Erwachsenen, sie spielten Krieg, und es war
ein Krieg, bei dem man für die Teilnahme aufgehängt und verbannt werden konnte.
Aber die Enden ihrer Baschlyks waren hinten so verknotet, daß es sie als Kinder
kenntlich machte und zeigte, daß sie noch Eltern hatten. Lara sah sie an, wie
eine Große Kleine ansieht. Deren gefährliche Vergnügen hatten einen Anflug von
Harmlosigkeit. Der gleiche Eindruck teilte sich allem übrigen mit. Dem frostigen
Abend, der mit so zottigem Reif bewachsen war, daß er infolge der Dunkelheit
nicht weiß, sondern schwarz wirkte. Dem blauen Hof. Dem Haus gegenüber, in dem
die Jungen eben verschwanden. Und vor allem den Revolverschüssen, die
fortwährend dort knallten. Die Jungen schießen, dachte Lara. Das bezog sich
nicht auf Nika und Pawluscha, sondern auf die ganze schießende Stadt. Gute,
ehrliche Jungen, dachte sie. Sie sind gut, deshalb schießen sie.
Sie erfuhren, daß die
Barrikade mit Kanonen beschossen werden sollte und ihr Haus daher in Gefahr war.
An einen Umzug zu Bekannten in einem anderen Teil von Moskau zu denken war es
zu spät, der Bezirk war umstellt. Sie mußten sich einen Winkel innerhalb dieser
Einkreisung suchen. Da fiel ihnen das »Tschernogorija« ein.
Es zeigte sich, daß sie nicht
die ersten waren. In dem Hotel war alles besetzt. Viele befanden sich in der
gleichen Lage. Da man sich ihrer erinnerte, versprach man ihnen, sie in der
Wäschekammer unterzubringen. Sie packten das Notwendigste in drei Bündel, um
nicht durch Koffer aufzufallen, und verschoben den Umzug ins Hotel immer wieder
auf den nächsten Tag.
Wegen der patriarchalischen
Sitten, die in der Schneiderei herrschten, wurde hier trotz des Streiks bis
zuletzt gearbeitet. Aber eines Tages in der kalten, öden Dämmerstunde klingelte
es an der Haustür. Ein Mann trat ein, stellte Forderungen, erhob Vorwürfe,
wollte die Prinzipalin sprechen. Faina Fetissowa kam in das Vorzimmer, um die
Wogen zu glätten.
»Kommt hierher, Mädels!« rief
sie und stellte die Schneiderinnen der Reihe nach dem Ankömmling vor.
Er begrüßte jede einzelne mit
Handschlag, linkisch und gefühlvoll, und ging, nachdem er mit Faina Fetissowa
eine Absprache getroffen hatte.
In die Werkstatt
zurückgekehrt, wickelten sich die Schneiderinnen ihre Schals um und fuhren mit
erhobenen Armen in ihre leichten Pelzmäntel.
»Was ist los?« fragte Amalia
Guichard, die eben hereinkam.
»Wir müssen gehen, Madame. Wir
streiken.«
»Habe ich etwa... Was habe ich
euch Böses getan?« Madame Guichard brach in Tränen aus.
»Seien Sie uns nicht böse,
Amalia Karlowna. Wir haben nichts gegen Sie, wir sind Ihnen sehr dankbar. Es
geht nicht um Sie und um uns. Das betrifft jetzt alle, die ganze Welt. Sollen
wir uns dagegenstellen?«
Sie gingen alle, selbst Olja
Djomina und Faina Fetissowa, die der Prinzipalin beim Abschied zuflüsterte, sie
habe diesen Streik für die Firma und die Chefin inszeniert. Aber diese sah es
nicht ein.
»Welch schwarzer Undank! Wie
man sich doch in den Menschen irren kann! Das Mädchen, dem ich so zugetan war!
Na gut, sie ist noch ein Kind. Aber auch die alte Hexe.«
»Verstehen Sie doch, Mutter,
die können nicht Ihretwegen eine Ausnahme machen«, sagte Lara tröstend.
»Niemand hegt einen Groll gegen Sie. Im Gegenteil. Alles, was jetzt geschieht,
geschieht im Namen des Menschen, zum Schutz der Schwachen, zum Wohl der Frauen
und Kinder. Ja, ja, schütteln Sie nicht so ungläubig den Kopf. Irgendwann wird
es uns beiden dadurch besser gehen.«
Aber die Mutter begriff es
nicht.
»So ist es immer«, sagte sie
schluchzend. »Mir ist ohnehin schon wirr im Kopf, und da redest du ein Zeug,
daß man sich nur wundern kann. Mir schmeißen sie Dreck an den Kopf, und das
soll in meinem Interesse sein. Nein, ich bin bestimmt schon verrückt geworden.«
Rodion war im Kadettenkorps.
Lara und ihre Mutter gingen allein durchs leere Haus. Die unbeleuchtete Straße
blickte mit hohlen Augen in die Zimmer. Die Zimmer antworteten mit
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