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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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der
Sophismen. Aber manchmal litt sie an auswegloser Schwermut.
    Daß er sich nicht schämte, ihr
zu Füßen zu liegen und sie anzuflehen: »So kann es nicht weitergehen. Überlege
doch, was ich mit dir gemacht habe. Du bist auf die schiefe Bahn geraten. Laß
uns der Mutter alles erzählen. Ich werde dich heiraten.«
    Er weinte und beharrte, als
sträubte sie sich, wäre dagegen. Aber das waren alles nur Phrasen, und sie
hörte gar nicht mehr auf das dramatische Geschwätz.
    Nach wie vor führte er die
tiefverschleierte Lara in die Separees des entsetzlichen Restaurants, wo Gäste
und Kellner sie mit ihren Blicken gleichsam entkleideten. Sie fragte sich nur:
Bedeutet Liebe etwa, den anderen zu erniedrigen?
    Eines Nachts hatte sie einen
Traum. Sie liegt unter der Erde, und von ihr sind nur die linke Seite mit der
Schulter und der rechte Fuß übrig. Aus ihrer linken Brustwarze wächst ein
Büschel Gras, und über der Erde wird gesungen »Schwarze Augen, weiße Brüste«
und »Mascha darf nicht übern Fluß«.
     
    Lara war nicht religiös. Sie
hielt nichts von der Liturgie. Um aber das Leben ertragen zu können, verlangte
es sie manchmal danach, von einer inneren Musik begleitet zu werden. Diese
Musik konnte sie nicht jedesmal selber schaffen. Sie fand sie in Gottes Wort
über das Leben, und um darüber zu weinen, lief sie gelegentlich in die Kirche.
Einmal, Anfang Dezember, als es Lara schwer ums Herz war wie Katerina im
»Gewitter«, ging sie beten mit dem Gefühl, die Erde werde sich jetzt gleich
unter ihr auftun, und die Kirchengewölbe würden einstürzen.
    Dann wäre alles zu Ende.
Schade nur, daß sie Olja Djomina mitgenommen hatte, dieses Schnattermaul.
    »Prow Afanassjewitsch«,
flüsterte Olja ihr ins Ohr.
    »Pst. Hör bitte auf. Wer ist
Prow Afanassjewitsch?«
    »Prow Afanassjewitsch Sokolow.
Ein entfernter Onkel. Der da spricht.«
    »Ach, der Psalmenleser. Er ist
mit den Tiwersins verwandt. Pst. Sei still. Stör mich bitte nicht.«
    Sie waren zu Beginn des
Gottesdienstes gekommen. Es wurde der Psalm gesungen: »Lobe den Herrn, meine
Seele, und was in mir ist seinen heiligen Namen!«
    Es waren kaum Menschen in der
hallenden Kirche. Nur ganz vorn drängten sich Betende zusammen. Die Kirche war
ein Neubau. Ihre farblosen Glasfenster waren kein Schmuck für die verschneite
graue Gasse und für die Passanten, die sie zu Fuß oder im Wagen durcheilten. An
einem Fenster stand der Kirchenälteste und machte ohne Rücksicht auf den
Gottesdienst mit lauter Stimme, die durch die Kirche schallte, einer tauben,
geisteskranken, zerlumpten Frau Vorhaltungen, und seine Stimme war von ebenso
amtlicher Alltäglichkeit wie das Fenster und die Gasse.
    Während Lara langsam um die
Betenden herumging und sich, Kupfermünzen in der Hand, zur Tür begab, um für
sich und Olja Kerzen zu kaufen, und ebenso vorsichtig, um niemand anzustoßen,
zurückkehrte, hatte Prow Sokolow die neun Seligpreisungen heruntergerattert wie
etwas, was auch ohne ihn allen bestens bekannt war.
    Selig sind, die da geistlich
arm sind... Selig sind, die da Leid tragen... Selig sind, die da hungert und
dürstet nach der Gerechtigkeit...
    Lara zuckte zusammen und blieb
stehen. Das galt ihr.
    Er sagt: Beneidenswert ist das
Los der Getretenen. Sie haben etwas von sich zu erzählen. Sie haben alles noch
vor sich. So glaubt er. Es ist Christi Meinung.
     
    Es waren die Tage von Presnja.
Sie befanden sich im Aufstandsgebiet. Ein paar Schritte von ihnen, in der
Twerskaja, wurde eine Barrikade errichtet. Sie konnten sie vom Schlafzimmer aus
sehen. Von ihrem Hof wurde eimerweise Wasser geholt, um die Barrikade zu
begießen, damit Steine und Schutt zu einem eisigen Panzer zusammenfroren.
    Auf dem Nachbarhof befand sich
die Sammelstelle für die Kämpfenden, dort gab es ärztliche Versorgung und
Proviant.
    Zwei Jungen gingen dorthin.
Lara kannten sie beide. Der eine war Nika Dudorow, der Freund von Nadja, Lara
hatte ihn bei ihr kennengelernt. Er war von Laras Wesensart - geradlinig, stolz
und schweigsam. Darum interessierte er sie nicht.
    Der andere war der Realschüler
Antipow, der bei Marfa Tiwersina, Olja Djominas Großmutter, lebte. Während der
Besuche bei der alten Dame merkte Lara allmählich, was für eine Wirkung sie auf
den Jungen hatte. Pawluscha Antipow war noch so jungenhaft naiv, daß er nicht
verbarg, welche Seligkeit ihm ihre Besuche bereiteten, als wäre Lara ein
Birkenwäldchen zur Ferienzeit mit frischem Gras und Wolken und als könnte er
seine

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