Boris Pasternak
Sicherheit
war. Warum ging sie ihm dann nicht aus dem Kopf!
Komarowski betrat das Haus,
stieg die Treppe hinauf bis zum Absatz und umrundete ihn. Hier gab es ein
venezianisches Fenster mit Wappenornamenten in den Ecken der Scheibe. Bunte
Lichtflecke fielen auf den Fußboden und das Fensterbrett. Auf halber Treppe
blieb Komarowski stehen.
Er durfte sich dieser
zermürbenden, zehrenden Sehnsucht nicht unterwerfen! Er war kein Junge mehr, er
mußte wissen, was aus ihm würde, wenn dieses kleine Mädchen, die Tochter seines
toten Freundes, dieses Kind, nicht mehr Mittel der Zerstreuung für ihn wäre,
sondern Gegenstand seines Wahnsinns. Er mußte sich besinnen! Er mußte sich treu
bleiben, durfte seine Gewohnheiten nicht ändern. Sonst endete alles in einer
Katastrophe.
Komarowski umklammerte mit der
Hand das breite Geländer, daß ihm die Finger schmerzten, schloß für einen
Moment die Augen, machte dann entschlossen kehrt und stieg wieder hinunter. Auf
dem Treppenabsatz mit den Lichtflecken fing er den vergötternden Blick der
Bulldogge auf. Jack sah ihn mit erhobenem Kopf von unten her an wie ein
sabbernder alter Zwerg mit Hängebacken. Der Hund mochte Lara nicht, er hatte
ihr schon die Strümpfe zerrissen, sie angeknurrt und die Zähne gefletscht. Er
war eifersüchtig auf Lara, als hätte er Angst, sie könnte sein Herrchen mit
etwas Menschlichem infizieren.
»Ach, so ist das! Du meinst,
alles wäre beim alten, Satanidi, Ferkeleien, Witze? Ich will's dir zeigen, da
hast du, da!«
Er bearbeitete die Bulldogge
mit dem Spazierstock und traktierte sie mit Fußtritten. Jack riß sich los,
heulte und winselte und humpelte mit wackelndem Hinterteil treppauf, um an der
Tür zu kratzen und Emma Ernestowna sein Leid zu klagen.
Tage und Wochen vergingen.
Was war das für ein
Teufelskreis! Wenn Komarowski, als er in ihr Leben trat, nur Abscheu in Lara
geweckt hätte, würde sie aufbegehrt und sich gelöst haben. Aber so einfach war
es nicht.
Es schmeichelte dem Mädchen,
daß der schöne, schon grau werdende Mann, der ihr Vater hätte sein können, dem
Versammlungen applaudierten und über den die Zeitungen schrieben, Geld und Zeit
für sie aufwandte, sie seine Göttin nannte, sie ins Theater und ins Konzert
mitnahm und sie, wie es so schön hieß, »geistig entwickelte«.
Schließlich war sie noch nicht
erwachsen, eine Gymnasiastin im braunen Kleid, insgeheim beteiligt an harmlosen
Schülerstreichen und -komplotten. Komarowskis Handgreiflichkeiten irgendwo in
der Droschke vor der Nase des Kutschers oder in der stillen Loge vor den Augen
des ganzen Theaters waren so unverhohlen dreist, daß es sie fesselte und das in
ihr erwachte Teufelchen zur Nachahmung reizte.
Aber dieser schülerhafte
Wagemut verging rasch. Quälende Niedergeschlagenheit und Entsetzen vor sich
selbst bemächtigten sich ihrer für lange Zeit. Sie hätte immerzu schlafen
können. Das machten die schlaflosen Nächte, die Tränen, der ewige Kopfschmerz,
die Schule und die allgemeine physische Müdigkeit.
Er war ihr Fluch, sie haßte
ihn. Dieser Gedanke beschäftigte sie täglich neu.
Sie war fürs ganze Leben seine
Gefangene. Womit hatte er sie hörig gemacht? Womit erpreßte er ihre Fügsamkeit,
so daß sie sich ihm auslieferte, seine Wünsche erfüllte und ihn mit dem Zittern
ihrer ungeschminkten Schande ergötzte? Mit seinem Alter, der finanziellen
Abhängigkeit ihrer Mutter von ihm, mit seiner gekonnten Einschüchterung? Nein,
nein und nein, das war alles Unsinn.
Nicht sie war ihm unterlegen,
sondern er ihr. Als ob sie nicht sah, wie er sich nach ihr sehnte! Sie hatte
nichts zu fürchten, ihr Gewissen war rein. Scham und Angst mußte er empfinden
bei dem Gedanken, sie könnte ihn preisgeben. Aber das war's ja gerade, sie
würde es nie tun. Dazu fehlte es ihr an Niedertracht, der wichtigsten Waffe
Komarowskis im Umgang mit Schwachen und Abhängigen.
Darin lag der Unterschied
zwischen ihnen. Das machte das Leben so schrecklich. Womit würde es zuschlagen,
mit Blitz und Donner? Nein, mit scheelen Blicken und getuschelten
Verleumdungen. Es war erfüllt von Hintergedanken und Zweideutigkeiten. Ein
einzelner Faden in einem Spinnennetz - man zog daran, und es war verschwunden,
aber versuchte man, sich aus dem Netz zu befreien, so verwickelte man sich nur
immer mehr.
Der Schwache, Niederträchtige
triumphiert über den Starken.
Sie sagte sich: Und wenn sie
verheiratet wären? Würde das einen Unterschied machen? Sie betrat den Weg
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