Boris Pasternak
ihm
unhörbar und unsichtbar den Haushalt. Er lohnte es ihr mit ritterlicher
Dankbarkeit, wie sie ganz natürlich ist bei solch einem Gentleman, und er
duldete keine Gäste oder Besucherinnen, die nicht in ihre harmlose
Altjungfernwelt paßten. In der Wohnung herrschte die Ruhe eines Mönchsklosters
- herabgelassene Vorhänge, kein Stäubchen, kein Fleckchen, wie in einem
Operationssaal.
Komarowski hatte die
Gewohnheit, an den Sonntagen vor dem Mittagessen mit seiner Bulldogge durch die
Petrowka und den Kusnezki Most zu flanieren. An einer Ecke schloß sich ihm
gewöhnlich der Schauspieler und Kartenspieler Konstantin Satanidi an.
Gemeinsam polierten sie die
Bürgersteige und wechselten Witze und Bemerkungen, die so kurz und unbedeutend
und von solcher Verachtung für alles auf der Welt erfüllt waren, daß sie statt
der Worte auch einfache Brummtöne hätten ausstoßen können, nur um die beiden
Bürgersteige des Kusnezki Most mit ihren lauten, schamlos keuchenden und
gleichsam an ihrer eigenen Vibration würgenden Bässen zu erfüllen.
Das Wetter kämpfte gegen seine
Schwäche. »Dip-dip-dip«, tropfte es auf das Blech der Simse und Regenrinnen.
Die Dächer hielten gleichsam Zwiesprache wie im Frühling. Es taute.
Sie war während des ganzen
Weges wie von Sinnen, und erst zu Hause begriff sie, was geschehen war.
Im Haus schlief alles. Wieder
fiel sie in Erstarrung, und in diesem Zustand ließ sie sich vor dem
Toilettentischchen ihrer Mutter nieder, angetan mit dem hellfliederblauen, fast
weißen Kleid mit dem Spitzenbesatz und dem langen Schleier, das sie sich für
diesen Abend aus der Schneiderei geholt hatte, als wollte sie zu einem
Maskenball. So saß sie vor ihrem Spiegelbild und sah nichts. Dann legte sie die
gekreuzten Arme auf das Tischchen und ließ den Kopf darauf sinken.
Wenn ihre Mutter das erfuhr,
brachte sie sie um. Zuerst sie und dann sich.
Wie war das geschehen? Wie
hatte das geschehen können? Darüber hätte sie vorher nachdenken sollen. Jetzt
war es zu spät.
Jetzt war sie, wie es so schön
hieß, eine Gefallene. Sie glich einer Frau aus einem französischen Roman, und
morgen würde sie ins Gymnasium gehen und dort in der Bank sitzen mit den
kleinen Mädchen, die im Vergleich zu ihr noch Säuglinge waren. Herrgott,
Herrgott, wie konnte das geschehen!
Irgendwann einmal, in vielen,
vielen Jahren, wenn das möglich wäre, würde Lara es Olja Djomina erzählen.
Olja würde ihren Kopf in die
Arme nehmen und losheulen.
Vor dem Fenster flüsterten die
Tropfen, plapperte das Tauwetter. Draußen hämmerte jemand gegen die Haustür der
Nachbarn. Lara hob nicht den Kopf. Ihre Schultern bebten. Sie weinte.
»Ach, Emma Ernestowna, meine
Liebe, das ist doch unwichtig. Ich mag nicht mehr.«
Er warf irgendwelche
Gegenstände, Manschetten und Vorhemden, auf den Teppich und das Sofa, zog
Kommodenschubladen auf und schob sie wieder hinein, ohne zu wissen, was er
suchte.
Er hatte großes Verlangen nach
ihr, aber sie an diesem Sonntag zu sehen war nicht möglich. Er hastete durchs
Zimmer wie ein eingesperrtes Tier und wußte nicht, wohin mit sich.
Sie war einzigartig in ihrem
beseelten Liebreiz. Ihre Hände beeindruckten ihn sehr, wie eine hohe
Denkungsart. Ihr Schatten auf den Tapeten des Zimmers dünkte ihn die Silhouette
ihrer Unverdorbenheit. Das Hemd umschloß ihre Brust straff und einfältig wie
eine auf den Stickrahmen gespannte Leinwand.
Komarowski trommelte mit den
Fingern gegen die Fensterscheibe, im gleichen Takt wie die Pferde, die unten
gemächlich über den Asphalt zockelten. »Lara«, flüsterte er und schloß die
Augen, und in Gedanken hatte er ihren Kopf in den Händen, den Kopf des
Mädchens, das mit gesenkten Wimpern schlief und nicht wußte, daß schlaflose
Augen sie stundenlang unverwandt ansahen. Ihre unordentlich über das Kissen
gebreiteten Haare bissen mit dem Rauch ihrer Schönheit in seine Augen und
drangen ihm in die Seele.
Sein Sonntagsspaziergang fiel
aus. Er ging mit Jack ein paar Schritte auf dem Bürgersteig und blieb stehen.
Er dachte an den Kusnezki Most, an Satanidis Scherze und an den Gegenstrom der
Bekannten. Nein, das überstieg seine Kräfte! Wie er das alles satt hatte! Er
kehrte um. Der Hund wunderte sich, sah ihn von unten herauf mißbilligend an
und trottete widerwillig zurück.
Ich bin wie besessen! dachte
er. Was hat das zu bedeuten? Was ist das, erwachtes Gewissen, Mitleid oder
Reue? Oder ist es Angst? Nein, er wußte ja, daß sie zu Hause und in
Weitere Kostenlose Bücher