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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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Eltern geopfert, um uns eine Freiheit zu erkämpfen,
wie sie noch kein einziges Volk auf der Welt genießt. Das habe ich getan wie
viele junge Leute, ganz zu schweigen von der alten Garde unserer ruhmreichen
Vorgänger, den Narodniki in der Katorga und den Narodowolzen in der Festung
Schlüsselburg. Haben wir das für uns getan? Hatten wir das nötig? Ihr seid
jetzt keine Gemeine mehr wie früher, sondern Soldaten der ersten
Revolutionsarmee der Welt. Fragt euch mal ehrlich, seid ihr diesem hohen Titel
gerecht geworden? Während die Heimat, ausblutend, mit einer letzten Anstrengung
die Hydra der andrängenden Feinde abwerfen will, habt ihr euch verdummen lassen
von einer Bande fremder Gauner und seid zu unpolitischem Abschaum geworden, zu
einer Horde entfesselter Unholde, die sich überfressen haben an der Freiheit
und die von allem nie genug kriegen können. Es ist genauso, als wenn man ein
Schwein an den Tisch läßt - es legt die Füße darauf. < Oh, ich werde sie
packen, ich werde sie beschämen!«
    »Nein, nein, das ist zu
riskant«, versuchte der Kreischef zu widersprechen, dabei wechselte er heimlich
einen vielsagenden Blick mit seinem Gehilfen.
    Galiullin versuchte ebenfalls,
den Kommissar von seiner verrückten Idee abzubringen. Er kannte die Draufgänger
aus dem zweihundertzwölften Regiment, es gehörte zu seiner früheren Division.
Aber der Kommissar wollte nichts hören.
    Juri Shiwago wäre am liebsten
aufgestanden und gegangen. Die Naivität des Kommissars irritierte ihn. Aber
nicht viel besser war die tückische Gewieftheit des Kreischefs und seines
Gehilfen, dieser gerissenen Spötter. Tücke und Dummheit waren einander wert.
Und all das brach in einem überflüssigen, lebensfernen, verwaschenen
Wortschwall hervor, ohne den das Leben so gern auskäme.
    Wie sehr hatte er manchmal den
Wunsch, dem hochtrabenden, hoffnungslos dummen Gerede der Menschen zu
entfliehen in das Schweigen der Natur, in die lautlose Katorga einer langen,
beharrlichen Arbeit, in die Wertlosigkeit tiefen Schlafs und wirklicher Musik
und in den aus übervoller Seele stummen stillen Herzensgleichklang!
    Ihm fiel ein, daß eine
Aussprache mit Schwester Antipowa bevorstand, die, wie auch immer, unangenehm
sein würde. Er freute sich, sie treffen zu müssen, wenn auch um solchen Preis.
Aber sie dürfte noch nicht zurück sein. Shiwago benützte den ersten passenden
Moment, stand auf und verließ unbemerkt den Raum.
     
    Es stellte sich heraus, sie
war schon zu Hause. Mademoiselle teilte ihm das mit und fügte hinzu, Schwester
Antipowa sei müde zurückgekehrt, habe in aller Eile zu Abend gegessen und sei
in ihr Zimmer gegangen, mit der Bitte, sie nicht mehr zu stören.
    »Aber klopfen Sie doch ruhig
bei ihr«, empfahl ihm Mademoiselle. »Sie schläft bestimmt noch nicht.«
    »Und wo ist ihr Zimmer?«
fragte er, was Mademoiselle höchlich verblüffte.
    Sie sagte ihm, daß Schwester
Antipowa ihr Zimmer oben am Ende des Korridors neben den Räumen habe, in denen
das Inventar der Gräfin Shabrinskaja unter Verschluß aufbewahrt werde. Shiwago
war noch nie dort gewesen.
    Es wurde schnell dunkel. Die
Straßen verengten sich, denn die Häuser und Zäune drängten sich in der
abendlichen Dunkelheit zusammen. Die Bäume traten aus den Höfen an die Fenster,
ins Licht der brennenden Lampen. Es war eine schwülheiße Nacht. Jede Bewegung
ließ einen in Schweiß geraten. Die Lichtstreifen der Petroleumlampen, die in
den Hof fielen, rannen wie schmutzige Schweißströme an den Baumstämmen herab.
    Auf der letzten Stufe blieb
der Arzt stehen. Einen von der Reise ermüdeten Menschen wachzuklopfen schien
ihm unschicklich und aufdringlich. Lieber das Gespräch auf den nächsten Tag
verschieben. In der Zerstreutheit, die umgestoßenen Entschlüssen zu folgen
pflegt, ging er durch den Korridor ans andere Ende. Dort war ein Fenster, das
in den Nachbarhof blickte. Shiwago beugte sich hinaus.
    Die Nacht war erfüllt von
geheimnisvollen leisen Tönen. Neben ihm im Korridor tropfte in gleichmäßigen
Abständen Wasser aus dem Gefäß zum Händewaschen. Irgendwo draußen wurde
geflüstert. Wo die Gemüsegärten anfingen, goß jemand die Gurkenbeete und füllte
zu diesem Zweck das Wasser aus dem Brunneneimer in einen anderen; die Kette
klirrte, wenn sie hochgezogen wurde.
    Es duftete nach allen Blumen
der Welt, als hätte die Erde tagsüber bewußtlos dagelegen und wäre jetzt durch
diese Düfte zur Besinnung gekommen. Aus dem uralten Park der Gräfin, der

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