Boris Pasternak
führte durch sumpfige Wiesen, die im Sommer austrockneten, nach Birjutschi,
dem Bahnknotenpunkt zweier Strecken, die sich in der Nähe von Meljusejew
kreuzten.
Im Juni war Sybuschino zwei
Wochen lang eine unabhängige Republik, ausgerufen von dem Müller Blashejko.
Die Republik stützte sich auf
Deserteure des 212. Infanterieregiments, die mit ihren Waffen die Stellungen
verlassen hatten und im Moment des Umsturzes über Birjutschi nach Sybuschino
gekommen waren.
Die Republik erkannte die
Macht der Provisorischen Regierung nicht an und hatte sich von dem übrigen
Rußland losgesagt. Blashejko, der zu einer Sekte gehörte und in seiner Jugend
mit Tolstoi korrespondiert hatte, verkündete ein neues tausendjähriges Reich
Sybuschino, vergemeinschaftete die Arbeit und den Besitz und benannte die
Landkreisverwaltung um in Apostolat.
Sybuschino war schon immer
eine Quelle von Legenden und unwahrscheinlichen Geschichten gewesen. Es lag
tief im Wald, fand schon in Dokumenten der Zeit der Wirren Erwähnung, und seine
Umgebung wimmelte später von Räubern. Der Reichtum seiner Kaufmannschaft und
die phantastische Fruchtbarkeit seiner Böden waren sprichwörtlich. So mancher
Volksglaube, manche Gebräuche und Besonderheiten der Aussprache, die diesen
westlichen Teil der frontnahen Zone auszeichneten, stammten direkt aus
Sybuschino.
Solche Märchen wurden jetzt
auch über Blashejkos ersten Gehilfen erzählt. Man behauptete, er sei von Geburt
an taubstumm, gewinne aber im Zustand der Erleuchtung die Gabe des Wortes und
verliere sie wieder, wenn die Erleuchtung vergehe.
Im Juli brach die Republik
Sybuschino zusammen. Eine regierungstreue Einheit zog in das Städtchen ein. Die
Deserteure wurden hinausgedrängt und gingen nach Birjutschi.
Dort zogen sich hinter den
Bahngleisen über mehrere Werst Kahlschläge hin, auf denen, von Walderdbeeren
überwuchert, Baumstümpfe ragten; da standen halbgeplünderte Holzstapel, die
seinerzeit nicht abtransportiert worden waren, und zerfallene Erdhütten, in
denen die Saisonholzfäller gewohnt hatten. Hier nisteten sich die Deserteure
ein.
Das Lazarett, in dem Doktor
Shiwago gelegen und später gedient hatte und das er jetzt verlassen wollte, war
untergebracht in der Villa der Gräfin Shabrinskaja, die sie zu Beginn des
Krieges für die Verwundeten hergegeben hatte.
Die zweigeschossige Villa
stand an einer der schönsten Stellen von Meljusejew, nämlich an der Ecke der
Hauptstraße zum zentralen Platz der Stadt, dem sogenannten Exerzierplatz, auf
dem früher die Soldaten gedrillt worden waren und jetzt die abendlichen
Meetings stattfanden.
Die Lage des Hauses bot nach
mehreren Seiten schöne Ausblicke. Man sah die Hauptstraße und den Platz, den
Nachbarhof, an den es grenzte, eine arme Provinzwirtschaft, die sich nicht von
einem Bauernhof unterschied, und auch den alten Park der Gräfin auf der
Rückseite des Hauses.
Die Villa hatte für die Gräfin
Shabrinskaja nie einen Eigenwert besessen. Ihr gehörte im Kreis das große Gut
»Freies Leben«, und das Haus diente lediglich als Unterkunft bei
Geschäftsreisen in die Stadt und als Stätte der Zusammenkunft für Gäste, die im
Sommer von allen Seiten auf das Gut kamen.
Jetzt beherbergte die Villa
das Lazarett, und die Gräfin war in Petersburg, ihrem ständigen Wohnsitz,
verhaftet worden.
Von dem früheren Gesinde waren
in der Villa nur zwei sonderbare Frauen geblieben, die alte Gouvernante der
inzwischen verheirateten gräflichen Töchter, Mademoiselle Fleury, und die
einstige Köchin der Gräfin, Ustinja.
Die grauhaarige, rotwangige
alte Mademoiselle Fleury schlurfte in ihren Pantoffeln, in einer zu großen
abgetragenen Jacke, schmuddelig und schlampig durch das Lazarett, wo sie mit
aller Welt auf freundschaftlichem Fuß stand wie früher mit der Familie
Shabrinskaja, und erzählte in gebrochenem Russisch etwas, wobei sie auf
französische Weise die Wortendungen verschluckte. Sie stellte sich in Positur,
schwenkte die Arme und brach zum Schluß ihres Geschwätzes in ein heiseres
Gelächter aus, das in einem langen, unstillbaren Hustenanfall endete.
Mademoiselle wußte um das Geheimnis von Schwester Antipowa. Sie befand, der
Arzt und die Schwester müßten einander gefallen. In ihrer Leidenschaft für die
Kuppelei, die ja tief in der romanischen Natur wurzelt, freute sie sich, wenn
sie die beiden beisammen sah, drohte vielsagend mit dem Finger und zwinkerte
schelmisch. Schwester Antipowa war verlegen, der Arzt verärgert,
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