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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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aber
Mademoiselle schätzte wie alle wunderlichen Menschen ihre Irrtümer höher und wollte
sich um nichts davon trennen.
    Noch sonderbarer war Ustinja.
Sie hatte eine ungefüge Figur, die sich nach oben hin verjüngte, was ihr
Ähnlichkeit mit einer Glucke verlieh. Trocken und nüchtern bis zur Bosheit,
verband sie mit ihrer Bedächtigkeit eine ausschweifende Phantasie auf dem
Gebiet des Aberglaubens.
    Ustinja kannte viele
volkstümliche Zauberformeln und tat keinen Schritt aus dem Hause, ohne sich
gegen das Feuer im Ofen versichert und das Schlüsselloch flüsternd gegen den
Bösen gefeit zu haben. Sie war in Sybuschino geboren. Es hieß, sie sei die
Tochter eines dörflichen Zauberers. Sie konnte jahrelang schweigen, aber wenn
es sie überkam, brachen alle Dämme. Dann konnte man sie nicht mehr zum
Schweigen bringen. Ihre Leidenschaft war, sich für die Gerechtigkeit
einzusetzen.
    Nach dem Zusammenbruch der
Republik Sybuschino veranstaltete das Exekutivkomitee von Meljusejew eine
Kampagne zur Bekämpfung der anarchistischen Strömungen in dem Städtchen.
Allabendlich kam es auf dem Exerzierplatz ganz von selbst zu friedlichen
Meetings mit wenig Teilnehmern, zu denen die müßigen Einwohner gingen wie
früher zu den Zusammenkünften unter freiem Himmel vor der Ausfahrt der
Feuerwehr. Die Abteilung für Kultur und Aufklärung der Stadt förderte diese
Versammlungen und entsandte ihre eigenen oder zugereisten Funktionäre als
Gesprächsleiter. Diese hielten das Märchen von einem sprechenden Taubstummen in
Sybuschino für himmelschreiende Dummheit und kamen in ihren Entlarvungsreden
besonders oft auf ihn zu sprechen. Aber die kleinen Handwerker, Soldatenfrauen
und einstigen Diener der Herrschaften in der Stadt waren anderer Meinung. Ein
sprechender Taubstummer war für sie nicht der Gipfel des Unsinns. Sie nahmen
ihn in Schutz.
    Unter den vereinzelten Rufen
aus der Menge zu seinem Schutz ertönte häufig die Stimme von Ustinja. Anfangs
fiel es ihr schwer, sich öffentlich zu äußern. Weiberscham hielt sie zurück.
Allmählich aber faßte sie sich ein Herz und attackierte immer mutiger die
Redner mit ihren Meinungen, die für Meljusejew nicht taugten. Unmerklich
entwickelte sie sich zu einer zünftigen Volksrednerin.
    Durch die offenen Fenster der
Villa war das verflochtene Stimmengewirr auf dem Platz zu hören, und an
besonders stillen Abenden drangen sogar Redefetzen herein. Wenn Ustinja sprach,
kam Mademoiselle oft ins Zimmer gelaufen, forderte die Anwesenden auf,
zuzuhören, und sagte, die Worte verstümmelnd, in gutmütigem Nachäffen: »Raspu!
Raspu! Brillant von Zar! Sybusch! Taubstumm! Verrat! Verrat!«
    Insgeheim war Mademoiselle
stolz auf das scharfzüngige Weib. Die beiden Frauen hingen sehr aneinander und
knurrten sich doch unentwegt an.
     
    Juri Shiwago bereitete sich
allmählich auf die Abreise vor, besuchte Häuser und Behörden, wo er sich
verabschiedete und die erforderlichen Papiere ausfüllte.
    Um diese Zeit kam der neue
Kommissar dieses Frontabschnitts in die Stadt. Von ihm wurde erzählt, er sei
noch ein richtiger Junge.
    Es waren die Tage der
Vorbereitung einer neuen Großoffensive. Man bemühte sich um einen
Stimmungsumschwung bei den Soldatenmassen. Die Truppen wurden zu schärferer
Disziplin angehalten. Militärische Revolutionsgerichte wurden eingerichtet und
die kürzlich abgeschaffte Todesstrafe wieder eingeführt.
    Doktor Shiwago mußte sich vor
seiner Abreise noch beim Kommandanten abmelden, dessen Amt in Meljusejew ein
Offizier versah, der Kreischef, wie er der Kürze halber genannt wurde.
    Bei ihm herrschte gewöhnlich
schreckliches Gedränge. Die vielen Besucher fanden in der Diele und auf dem Hof
keinen Platz und standen die halbe Straße entlang vor den Fenstern des
Amtsgebäudes. Es war unmöglich, zu den Schreibtischen vorzudringen. Wegen des
Stimmengewirres der Hunderte von Menschen war kein Wort zu verstehen.
    An diesem Tag aber war keine
Sprechstunde. In der menschenleeren stillen Kanzlei waren die Schreiber, die
sich über den immer komplizierteren Schriftverkehr ärgerten, schweigend mit
ihrer Arbeit beschäftigt, sie wechselten ironische Blicke. Aus dem Zimmer des
Chefs drangen lustige Stimmen zu ihnen, als säße man mit aufgeknöpftem Uniformrock
und labte sich an kühlen Getränken.
    Galiullin kam in den Raum für
den Publikumsverkehr, erblickte Shiwago und winkte ihn mit einer gleichsam
Anlauf nehmenden Bewegung des ganzen Körpers ins Chefzimmer, die da

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