Boris Pasternak
werden. Kein Wunder, es gibt da viele Fluchtwege,
ein ganzes Netz von Gängen und die erhalten gebliebenen Diebsnester vom
Smolensker Markt. Sie berauben einen, ziehen einem die Sachen aus, und ft, weg
sind sie.«
»Die Laternen leuchten ja so
schwach. Kein Wunder, daß man bei uns Blutergüsse >Laternen< nennt. Man
kann sich leicht stoßen.«
Wirklich, an dem genannten Ort
wurde Doktor Shiwago von allen möglichen Zufällen heimgesucht. Einmal im
Spätherbst, kurz vor den Oktoberkämpfen, stieß er an einem kalten dunklen Abend
an dieser Ecke auf einen Mann, der besinnungslos quer über dem Bürgersteig lag.
Mit ausgebreiteten Armen lag er da, den Kopf an einem Prellstein, die.Beine auf
der Fahrbahn. Ab und zu stöhnte er leise. Auf die lauten Fragen des Arztes, der
ihn zur Besinnung zu bringen versuchte, murmelte er etwas Unzusammenhängendes
und verlor wieder für einige Zeit das Bewußtsein. Sein Kopf war aufgeschlagen
und blutüberströmt, aber der Schädelknochen, nach flüchtiger Untersuchung,
heil. Der Mann war ohne Zweifel Opfer eines Raubüberfalls geworden.
»Aktentasche. Aktentasche«, flüsterte er zwei- oder dreimal.
Von der nahen Arbat-Apotheke
aus rief der Arzt das Kreuzerhöhungs-Krankenhaus an, ließ den alten Kutscher
kommen, der zu dieser Arbeit verpflichtet worden war, und schaffte den
Unbekannten ins Krankenhaus.
Der Geschädigte erwies sich
als ein angesehener Politiker. Der Arzt heilte ihn und gewann in ihm für lange
Jahre einen Gönner, der ihn in dieser Zeit voller Verdacht und Argwohn vor
vielen Unannehmlichkeiten bewahrte.
Es war Sonntag. Doktor Shiwago
hatte frei. Er mußte nicht zum Dienst ins Krankenhaus. In dem Haus in Siwzew
Wrashek hatten sie sich für den Winter in den drei Zimmern eingerichtet, die
Tonja ausgesucht hatte.
Es war ein kalter, windiger
Tag mit niedrigen Schneewolken, dunkel, sehr dunkel.
Seit dem Morgen heizten sie.
Es qualmte. Tonja, die vom Heizen nichts verstand, gab Njuscha, die sich mit
dem feuchten Holz abmühte, unvernünftige und schädliche Ratschläge. Der Arzt,
der es sah und wußte, was zu tun war, versuchte sich einzuschalten, aber seine
Frau nahm ihn sacht bei der Schulter und komplimentierte ihn hinaus mit den
Worten: »Geh in dein Zimmer. In meinem Kopf dreht sich sowieso schon alles, und
da kommst du noch und redest dazwischen. Verstehst du, deine Bemerkungen gießen
nur Öl ins Feuer.«
»Oh, Öl, Tonja, das wäre
großartig! Dann würde der Ofen sofort brennen. Aber das Elend ist ja, daß ich
weder Öl noch Feuer sehe.«
»Auch für Wortspiele ist jetzt
nicht die Zeit. Verstehst du, es gibt Momente, da hat man keinen Sinn für so
etwas.«
Das erfolglose Heizen warf die
Sonntagspläne über den Haufen. Alle hatten gehofft, die notwendigen Arbeiten
bis zur Dunkelheit erledigt und dann den Abend frei zu haben, aber das fiel
jetzt weg. Das Mittagessen zog sich hinaus, jemand wollte sich mit warmem
Wasser den Kopf waschen, und es gab weitere Vorsätze.
Bald war alles so verqualmt,
daß sie keine Luft mehr bekamen. Der heftige Wind drückte den Rauch zurück ins
Zimmer. Darin stand eine Wolke aus schwarzem Ruß wie ein Märchenungeheuer im
tiefen Wald.
Der Arzt scheuchte alle in die
anderen Zimmer und öffnete die Lüftungsklappe. Dann warf er die Hälfte des
Holzes aus dem Ofen und legte zwischen die restlichen Scheite eine Schicht
dünner Birkenholzspäne zum Anheizen hinein.
Durch die Lüftungsklappe drang
frische Luft. Der Fenstervorhang blähte sich. Vom Schreibtisch flogen ein paar
Blätter. Der Wind schlug eine ferne Tür zu, wirbelte durch alle Winkel und
machte Jagd auf die Rauchreste wie eine Katze auf die Maus.
Das Holz flackerte prasselnd
auf. Das Öfchen füllte sich mit Flammen. Aufseiner eisernen Platte schimmerten
wie schwindsüchtige Röte glühende Flecke. Der Rauch im Zimmer wurde immer
dünner und verschwand dann gänzlich.
Im Zimmer wurde es heller. Die
Fenster, die Juri erst kürzlich nach den Ratschlägen des Prosektors verschmiert
hatte, beschlugen. Der fettig warme Geruch des Kitts strömte wie eine Welle
durchs Zimmer. Es roch auch nach dem kurzgesägten Brennholz, das am Ofen
trocknete - der bittere, die Kehle reizende, brandige Geruch von Fichtenrinde
und der frische, an Toilettenwasser erinnernde Duft von feuchtem Espenholz.
In diesem Moment stürmte,
ebenso schnell wie die Luft in die Lüftungsklappe, Onkel Nikolai ins Zimmer mit der
Neuigkeit: »In den Straßen wird gekämpft. Es
finden militärische
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