Boris Pasternak
Auseinandersetzungen statt zwischen den Junkern, die die
Provisorische Regierung unterstützen, und den Soldaten der Garnison, die für
die Bolschewiken sind. Auf Schritt und Tritt Gefechte, die Aufstandsherde sind
nicht zu zählen. Auf dem Weg zu euch bin ich zwei- oder dreimal in eine prekäre
Situation geraten, das eine Mal an der Ecke Bolschaja Dmitrowka und das andere
Mal am Nikitskije-Tor. Den direkten Weg gibt es nicht mehr, man muß Umwege
machen. Beeil dich, Jura! Zieh dich an und komm mit. Das muß man gesehen haben.
Das ist Geschichte. Das passiert nur einmal im Leben.« Dann aber verplauderte
er sich fast zwei Stunden, danach wurde Mittag gegessen, und als er nach Hause
gehen und den Neffen mitnehmen wollte, erschien Gordon. Der kam genauso
hereingesaust wie Onkel Nikolai und brachte die gleichen Neuigkeiten.
Aber die Ereignisse hatten
sich inzwischen weiterentwickelt. Es gab neue Einzelheiten. Gordon erzählte von
zunehmenden Schießereien und getöteten Passanten, die von verirrten Kugeln
getroffen worden waren. Der Verkehr in der Stadt sei lahmgelegt. Wie durch ein
Wunder sei er bis hier in die Gasse gekommen, aber der Rückweg sei ihm
abgeschnitten.
Onkel Nikolai hörte nicht
darauf und versuchte, die Nase hinauszustecken, aber er kam gleich wieder
zurück und sagte, es gebe keinen Weg aus der Gasse, da die Kugeln nur so
pfiffen und Ziegel- und Stuckbrocken von den Hausecken fetzten. Draußen sei
keine Menschenseele, und die Bürgersteige seien leer.
In diesen Tagen erkältete sich
Saschenka.
»Ich habe dir hundertmal
gesagt, lasse das Kind nicht so nahe an den geheizten Ofen«, sagte der Arzt
ärgerlich. »Überhitzung ist viel schädlicher als Unterkühlung.«
Saschenkas Hals war entzündet,
und er hatte hohes Fieber. Eine besondere Eigenschaft von ihm war eine
unnatürliche, mystische Angst vor Übelkeit und Erbrechen, die er andauernd
hochkommen fühlte.
Er stieß die Hand seines
Vaters mit dem Laryngoskop weg, ließ es nicht in seinen Hals einführen, kniff
den Mund zu, schrie und würgte. Zureden und Drohungen halfen nicht. Doch auf
einmal war der Junge so unvorsichtig, breit und behaglich zu gähnen, und dies
benutzte der Arzt, ihm mit einer blitzschnellen Bewegung den Teelöffel in den
Mund zu stecken, die Zunge niederzudrücken und einen Blick auf den himbeerrosa
Kehlkopf und die belegten, geschwollenen Mandeln zu werfen. Ihr Aussehen
beunruhigte ihn. Etwas später gelang es dem Arzt durch eine ähnliche
Manipulation, bei Saschenka einen Abstrich zu machen. Sein Schwiegervater besaß
ein eigenes Mikroskop. Damit nahm Shiwago schlecht und recht die Untersuchung
vor. Zum Glück war es keine Diphtherie.
Aber in der dritten Nacht
erlitt Saschenka einen Anfall von Pseudokrupp. Er fieberte und rang nach Luft.
Shiwago konnte das arme Kind nicht mehr ansehen, denn er war ohnmächtig, es von
seinen Leiden zu befreien. Tonja glaubte schon, der Junge müsse sterben. Die
Eltern nahmen ihn auf die Arme, trugen ihn im Zimmer herum, da wurde ihm
besser.
Sie brauchten Milch, Soda oder
Mineralwasser. Aber noch immer fanden erbitterte Straßenkämpfe statt. Das
Schießen, sogar mit Geschützen, hörte keinen Moment auf. Doch selbst wenn
Shiwago es unter Lebensgefahr gewagt hätte, sich durch die beschossene Zone
durchzuschlagen, würde er auch jenseits der Feuerlinie kein Leben angetroffen
haben, das in der ganzen Stadt erstorben war, solange sich die Lage nicht
endgültig geklärt hatte.
Aber sie war schon klar. Von
überall kamen Gerüchte, daß die Arbeiter die Oberhand gewannen. Noch schlugen
sich vereinzelte Häuflein von Junkern, voneinander isoliert und ohne Verbindung
zu ihrer Führung.
Der Bezirk Siwzew Wrashek
gehörte zum Aktionskreis der Einheiten, die von Dorogomilowo her gegen das
Stadtzentrum vorrückten. Die Soldaten aus dem deutschen Krieg und die
jugendlichen Arbeiter, die in einer Gasse im Schützengraben saßen, kannten die
Bewohner der umliegenden Häuser bereits und wechselten gutnachbarlich Scherze
mit ihnen, wenn diese aus den Toren äugten oder herauskamen. In diesem
Stadtteil gab es schon wieder Straßenverkehr.
Da verließen auch Mischa
Gordon und Nikolai Wedenjapin den Ort ihrer Gefangenschaft. Drei Tage und
Nächte hatten sie bei Doktor Shiwago festgesessen. Der Arzt hatte sich gefreut,
sie in den schweren Tagen von Saschenkas Krankheit bei sich zu haben, und Tonja
verzieh ihnen die Unordnung, die sie zusätzlich in das allgemeine Durcheinander
brachten. Aber beide
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