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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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die
Passanten betrachtete er zumeist von der Straßenmitte her, wenn er den Arbat
bei der Apotheke der russischen Ärztegesellschaft an der Ecke der
Starokonjuschenny-Gasse überquerte.
    Er arbeitete wieder in seinem
alten Krankenhaus. Es hieß aus Gewohnheit noch immer Kreuzerhöhungs-Krankenhaus,
obwohl die Gemeinschaft dieses Namens aufgelöst worden war. Für das Krankenhaus
hatte man sich noch keinen geeigneten Namen ausgedacht.
    Innerhalb des Krankenhauses
begannen sich bereits Fronten zu bilden. Die Gemäßigten, deren Stumpfsinn den
Arzt empörte, fanden ihn gefährlich und die anderen, die politisch weiter
gingen, nicht rot genug. So gehörte er weder zu den einen noch zu den anderen,
hatte vom einen Ufer abgelegt und das andere noch nicht erreicht.
    In dem Krankenhaus hatte er
auf Weisung des Direktors, außer seine Pflichten als Arzt zu versehen, auch
noch die allgemeine Statistik zu führen. Wie viele Fragebögen, Formulare und
Bestellisten mußte er prüfen und ausfüllen! Sterblichkeit, wachsender
Krankenstand, die finanzielle Lage der Angestellten, der Grad ihres
staatsbürgerlichen Bewußtseins und ihrer Wahlbeteiligung, der nicht zu deckende
Bedarf an Heizmaterial, Lebensmitteln und Medikamenten, alles interessierte die
statistische Zentralverwaltung, auf alles wurde Antwort verlangt.
    Doktor Shiwago erledigte all
dies an seinem alten Schreibtisch am Fenster des Ärztezimmers. Das in Rubriken
unterteilte Papier verschiedener Formen und Muster lag in Stößen vor ihm, zur
Seite geschoben. Manchmal, in Abständen, schrieb er hier neben seinen regelmäßigen
Aufzeichnungen für seine medizinischen Arbeiten an seinem Buch »Das Spiel, ein
Mensch zu sein«, einem düsteren Tagebuch oder Journal jener Tage; es bestand
aus Prosa, Gedichten und sonstigem, ihm eingegeben von dem Bewußtsein, daß die
Hälfte der Menschen nicht mehr sie selbst waren und niemand wußte, was für eine
Rolle sie spielten.
    Das helle Ärztezimmer mit den
weißgestrichenen Wänden war durchflutet vom cremefarbenen Licht der goldenen
Herbstsonne nach Maria Himmelfahrt. Morgens gab es schon die ersten Fröste, und
die Meisen und Elstern flogen in die Buntheit der gelichteten Wälder. Der
Himmel war in diesen Tagen unendlich hoch, und in die durchsichtige Luftsäule
zwischen ihm und der Erde zog von Norden her eisige dunkelblaue Klarheit. Alles
war deutlicher zu sehen und zu hören als sonst. Die Entfernungen gaben jeden
Laut einzeln hallend weiter. Die Weiten hellten sich auf, als öffneten sie den
Blick auf das Leben vieler künftiger Jahre. Die verdünnte Luft hätte sich nicht
ertragen lassen, wäre sie nicht so kurzzeitig gewesen und wäre nicht auf den
kurzen Herbsttag alsbald eine frühe Dämmerung gefolgt.
    Solches Licht erfüllte das
Ärztezimmer, das Licht der früh zur Neige gehenden Herbstsonne, frisch, glasig
und wässerig wie ein reifer weißer Klarapfel.
    Shiwago saß am Schreibtisch,
tauchte immer wieder die Feder ins Tintenfaß, dachte nach und schrieb. Dicht an
den großen Fenstern des Ärztezimmers vorbei flogen irgendwelche stillen Vögel,
warfen für einen Moment lautlose Schatten ins Zimmer, auf die sich bewegenden
Hände des Arztes, den Schreibtisch mit den Formularen, den Fußboden und die
Wände und verschwanden ebenso lautlos.
    »Die Ahornblätter fallen schon
ab«, sagte der Prosektor, früher ein dicker Mann, dem nun nach der Abmagerung
die Haut in Falten hing. »Die Regenfälle haben sie gewaschen, die Winde haben
sie gezaust und konnten ihnen nichts anhaben. Ein einziger Morgenfrost hat es
bewirkt.«
    Der Arzt hob den Kopf.
Tatsächlich, die geheimnisvollen Vögel, die am Fenster vorüberschwebten, waren
feurig weinrote Ahornblätter, die durch die Luft davongaukelten und sich wie
orangefarbene gebogene Sterne abseits der Bäume auf den Krankenhausrasen
legten.
    »Sind die Fenster schon
verkittet?« fragte der Prosektor.
    Der Arzt verneinte und schrieb
weiter.
    »Warum nicht? Höchste Zeit.«
    Der Arzt gab keine Antwort,
das Schreiben nahm ihn in Anspruch.
    »Schade, daß Tarassjuk nicht
da ist«, fuhr der Prosektor fort. »Das war ein Mann mit goldenen Händen. Er
konnte Schuhe reparieren. Und Uhren. Er konnte einfach alles. Auch alles auf
der Welt beschaffen. Aber verkittet muß werden. Und wenn wir es selber machen.«
    »Kein Kitt da.«
    »Stellen Sie welchen her. Ich
gebe Ihnen das Rezept.« Der Prosektor erklärte, wie aus Ölfirnis und Kreide
Kitt gemacht wird. »Aber ich merke, ich störe

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