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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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hatten sich als Dank für die Gastfreundschaft verpflichtet
gefühlt, ihre Gastgeber mit endlosen Gesprächen zu unterhalten, doch Shiwago
war von dem dreitägigen leeren Geschwätz so müde, daß ihn der Abschied von
ihnen herzlich freute.
     
    Er erfuhr, daß sie
wohlbehalten nach Hause gelangt waren, doch sie hatten unterwegs feststellen
müssen, daß das Gerede von der allgemeinen Beruhigung verfrüht war. An
verschiedenen Stellen gingen die Kampfhandlungen weiter, durch einige
Stadtbezirke kam man nicht hindurch, und der Arzt konnte noch immer nicht in
sein Krankenhaus, nach dem er sich schon sehnte und wo in einer Schublade im
Ärztezimmer sein »Spiel, ein Mensch zu sein« und seine wissenschaftlichen
Aufzeichnungen lagen. Nur innerhalb einzelner Reviere verließen die Menschen
schon morgens ihre Häuser, um in der Nachbarschaft Brot zu holen und Passanten,
die Milchflaschen trugen, auszufragen, wo sie sie herhätten.
    Ab und zu flammte das Schießen
in der ganzen Stadt wieder auf und trieb die Menschen zurück in ihre Häuser.
Jedermann konnte sich denken, daß die beiden Seiten irgendwelche Verhandlungen
führten, deren jeweiliger Erfolg eine Verstärkung oder Abschwächung des
Schrapnellfeuers nach sich zog.
    Eines Abends am Ende des alten
Oktober gegen neun ging Doktor Shiwago die Straße entlang; ohne besondere
Notwendigkeit wollte er einen in der Nähe wohnenden Kollegen besuchen. Die
gewöhnlich belebte Gegend war jetzt menschenleer. Shiwago sah kaum einen
Passanten.
    Er ging rasch. Erste spärliche
Schneeflocken stäubten in dem heftigen und immer mehr zunehmenden Wind, der
sich vor den Augen des Arztes in einen Schneesturm verwandelte.
    Er bog aus einer Gasse in eine
andere ein und wußte schon nicht mehr, wie oft er abgebogen war, da fiel der
Schnee auf einmal ganz dicht und wurde zu einem Gestöber, wie es auf freiem
Feld winselnd über die Erde kriecht, in der Stadt hingegen durch die engen
Gassen braust, als hätte es sich verirrt.
    In der sittlichen und in der
physischen Welt, in der Nähe und in der Ferne, auf der Erde und in der Luft
spielte sich ähnliches ab. Irgendwo vereinzelt tönten die letzten Salven des
gebrochenen Widerstands. Irgendwo am Horizont sprangen wie Blasen die schwachen
Widerscheine gelöschter Brände auf und platzten. Ebensolche Ringe und Trichter
trieb und wirbelte der Schneesturm, der zu Füßen Shiwagos auf den nassen
Fahrbahnen und Bürgersteigen rauchte.
    An einer Kreuzung lief mit dem
Ruf »Letzte Nachrichten« ein Zeitungsjunge, einen Packen frischgedruckter
Blätter unter dem Arm, an ihm vorbei.
    »Stimmt so«, sagte der Arzt.
Der Junge konnte das am Packen klebende feuchte Blatt kaum lösen, er gab es dem
Arzt und tauchte so schnell im Schneesturm unter, wie er daraus aufgetaucht
war.
    Der Arzt ging zu einer
Straßenlaterne, die zwei Schritt von ihm entfernt brannte, um das Blatt gleich
hier zu überfliegen.
    Die einseitig bedruckte
Extraausgabe enthielt eine Mitteilung der Regierung aus Petersburg über die
Bildung des Rates der Volkskommissare, die Errichtung der Sowjetmacht in
Rußland und die Einführung der Diktatur des Proletariats. Es folgten die ersten
Dekrete der neuen Macht und verschiedene Informationen, die telegrafisch und
telefonisch durchgegeben worden waren.
    Der Schneesturm peitschte
Doktor Shiwago in die Augen und trieb raschelnd Schneegraupeln über die
Druckzeilen. Aber nicht das störte ihn beim Lesen. Die Größe und Ewigkeitsdauer
des Augenblicks erschütterten ihn und ließen ihn nicht zur Besinnung kommen.
    Um die Informationen doch noch
zu Ende zu lesen, hielt er suchend Umschau nach einem vom Schnee geschützten
und beleuchteten Plätzchen. Da sah er, daß er schon wieder auf der
verwunschenen Kreuzung der Serebrjany-Gasse und der Moltschanowka stand, vor
dem Torweg eines fünfgeschossigen Hauses mit einer Glastür und einem
geräumigen, elektrisch beleuchteten Hausflur.
    Der Arzt ging hinein und
vertiefte sich im Licht der elektrischen Birne in die Telegramme.
    Über ihm ertönten Schritte.
Jemand kam die Treppe herunter und blieb häufig, gleichsam unschlüssig stehen.
Und wirklich, er schien es sich anders überlegt zu haben, denn er kehrte um und
lief treppauf. Irgendwo wurde eine Tür geöffnet, und wie eine Welle drangen
zwei Stimmen herunter, durch den Hall so verzerrt, daß nicht zu unterscheiden
war, ob es Männer- oder Frauenstimmen waren. Wieder klappte eine Tür, und
derjenige, der herunterkam, tat es jetzt bedeutend

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