Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Wildpferd zu Tode gesteinigt und dann aus dessen Halsschlagader das Blut gesaugt. Geronimo hat das auch getan, dachte Billy. Augenblick mal, es könnte auch Kit Carson gewesen sein …
Das Blut trinken? Jenn starrte ihn nur an. Ihr Hals war so ausgedörrt, dass das Sprechen wehtat. Er verliert den Verstand, dachte sie. Wir können kaum noch gehen, und er redet davon, mit einem Messer, das wir nicht haben, eine Ziege zu schlachten, die wir gar nicht fangen können. Ihm geht es noch schlechter als mir. Er ist …
Plötzlich hatte sie einen so heftigen Magenkrampf, dass ihr fast die Luft wegblieb. Jetzt verstand sie. Billy redete nicht wegen der Hitze so irre daher. Er klang verrückt, weil das einzige vernünftige Thema, das es noch zu besprechen gab, die eine Sache war, die er nicht zugeben wollte: Ihre Lage war aussichtslos.
An einem guten Tag hätte niemand Billy und Jenn auf einem popeligen Zehn-Kilometer-Geländelauf so abhängen können, aber dies hier sollte sich als ein ziemlich schlechter Tag erweisen. Die Hitze, ihr Kater und der leere Magen machten sich bemerkbar, noch bevor sie den halben Weg bergab geschafft hatten. An einer der Spitzkehren verloren sie Caballo aus den Augen, und dann kamen sie an eine Weggabelung. Wenig später bemerkten sie, dass sie allein waren.
Jenn und Billy, desorientiert, wie sie waren, gelangten von der Bergflanke direkt in ein Steinlabyrinth, das sich in alle Richtungen weiterverzweigte. Die Felswände reflektieren eine so enorme Hitze, dass Jenn vermutete, sie und Billy würden sich nur noch dorthin leiten lassen, wo es ein bisschen mehr Schatten zu geben schien. Jenn war schwindlig, sie fühlte sich, als ob ihr Denken sich vom Körper gelöst hätte. Sie hatten nichts mehr gegessen, seit sie vor sechs Stunden den PowerBar geteilt hatten, und seit der Mittagszeit keinen Schluck Wasser mehr getrunken. Jenn wusste: Selbst wenn sie keinem Hitzschlag zum Opfer fielen, war ihr Schicksal dennoch besiegelt. Die Temperatur von über 38 Grad würde nachlassen, aber sie würde dann weiter fallen. Bei Einbruch der Dunkelheit würden sie in ihren Surfershorts und T-Shirts zittern und dann in einer der abgelegensten Landschaften Mexikos an Durst und Unterkühlung sterben.
Sie würden merkwürdige Leichen abgeben, dachte Jenn, als sie sich so dahinschleppten. Wer immer sie dann fand, würde sich fragen müssen, wie es ein Pärchen 22-jähriger Rettungsschwimmer in Strandklamotten auf den Grund eines Canyons in Mexiko verschlagen hatte, als hätte sie eine ungeheure Welle von Baja California hierherbefördert. Jenn war noch nie in ihrem Leben so durstig gewesen. Bei einem 160-Kilometer-Rennen hatte sie schon einmal fünfeinhalb Kilo verloren und war dabei immer noch nicht so verzweifelt gewesen wie jetzt.
»Sieh mal!«
»Bonehead im Glück!«, staunte Jenn. Unter einem Felsvorsprung hatte Billy einen kleinen Wassertümpel entdeckt. Sie rannten hin, schraubten dabei hektisch die Verschlüsse von ihren Wasserflaschen, doch dann hielten sie inne.
Das Wasser war aber gar kein Wasser. Es bestand aus schwarzem Schlamm und grünem Schleim, jede Menge Fliegen schwirrte durch die Luft und um die Hinterlassenschaften von Wildziegen und Burros herum. Jenn beugte sich hinunter, um sich die Sache genauer anzusehen. Igitt! Die Brühe roch übel. Sie wussten, was ihnen vielleicht schon nach einem einzigen Schluck drohte. Schon bei Sonnenuntergang könnten sie durch Fieber und Durchfall zu schwach zum Gehen sein, oder sie konnten sich mit Cholera oder Giardiasis oder Medinawürmern anstecken, gegen die es keine andere Abhilfe gab, als die fast einen Meter langen Würmer langsam aus den Abszessen zu ziehen, die sich auf der Haut und in den Augenhöhlen bildeten.
Aber sie wussten auch, was passieren würde, wenn sie überhaupt nichts tranken. Jenn hatte eben erst von diesem Freundespaar gelesen, das sich in einem Canyon in New Mexico verlaufen hatte und nach einem einzigen Tag ohne Wasser in der kochenden Hitze so irre geworden war, dass der eine den anderen erstach. Sie hatte Fotos von verirrten Wanderern gesehen, deren Leichen man im Tal des Todes gefunden hatte. Sie hatten sich Erde in den Mund gestopft und in den letzten Augenblicken ihres Lebens noch versucht, aus dem glühendheißen Sand Feuchtigkeit zu saugen. Sie und Billy konnten sich von dem Tümpel fernhalten und verdursten oder sie konnten ein paar Schlucke trinken und dabei riskieren, an etwas anderem zu sterben.
»Lassen wir’s sein«,
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