Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
wusste, was in seinem Kopf vorging, noch bevor er es aussprach.
»Was ist dein Geheimnis, Mann?«, fragte er Eric mit einem Nicken in meine Richtung. »Wie hast du diesen Burschen hingekriegt?«
27
Ich hatte Eric im Vorjahr kennengelernt, unmittelbar nachdem ich meine Laufschuhe wütend weggeworfen und mich in einem eisigen Bach abgekühlt hatte. Ich war wieder einmal verletzt – und zwar nach meiner eigenen Einschätzung das letzte Mal.
Gleich nach meiner Rückkehr aus den Barrancas hatte ich mich an die Umsetzung von Caballos Anweisungen gemacht. Ich konnte es kaum erwarten, jeden Nachmittag meine Schuhe zu schnüren und an das Gefühl anzuknüpfen, das ich in den Bergen in der Umgebung von Creel entwickelt hatte, als das Laufen in Caballos Spur die Kilometer so einfach, leicht, sanft und schnell hatte erscheinen lassen, dass ich nicht mehr aufhören wollte. Wenn ich jetzt lief, spulte ich in Gedanken meinen Film von Caballo in Aktion ab, rief mir in Erinnerung, wie er die Berge von Creel hinaufgeschwebt und dabei irgendwie ganz entspannt geblieben war – als würde er von Außerirdischen entführt -, mit Ausnahme dieser knochigen Ellenbogen, die Schwung holten wie ein Spielzeugroboter. Der auf einem Bergpfad laufende Caballo erinnerte mich bei aller Schlaksigkeit an Muhammad Ali im Boxring: frei beweglich wie ein von Wellen umspültes Stück Seetang, mit einer Andeutung von Wildheit, die jederzeit explodieren konnte.
Nach zwei Monaten war ich bei täglichen zehn Kilometern angelangt, einmal pro Wochenende waren sogar 16 Kilometer drin. Meine Form war noch nicht bei Sanft angelangt, aber ich ließ die Tachonadel ziemlich konstant zwischen Einfach und Leicht zittern. Dennoch war ich ein bisschen besorgt: Ganz gleich, wie vorsichtig ich die Sache anging, meine Beine probten bereits den Aufstand. Der kleine Flammenwerfer in meinem rechten Fuß sandte Funken aus, und auf der Rückseite beider Waden zupfte es, als ob meine Achillessehnen durch Stahldraht ersetzt worden wären. Ich legte mir Stretchingbücher zu und schob pflichtbewusst vor jedem Lauf eine halbe Stunde mit Lockerungsübungen ein, aber der lange Schatten von Dr. Torgs Kortisonspritze hing drohend über mir.
Im Spätfrühling war die Zeit reif für einen Test. Mithilfe eines befreundeten Försters kam ich zu einer perfekten Gelegenheit: zu einem dreitägigen, 80 Kilometer langen Laufausflug im über 10 000 Quadratkilometer großen »River of No Return«-Naturschutzgebiet in Idaho, das zu den wildesten Einöden auf dem US-amerikanischen Festland zählt. Die Organisation war perfekt: Unsere Vorräte und das Gepäck sollten per Maultier transportiert werden, sodass ich und die anderen vier Läufer nur die gut 25 Kilometer von einem Lagerplatz zum anderen zu bewältigen hatten.
»Ich wusste wirklich gar nichts über den Wald, bis ich nach Idaho kam«, sagte Jenni Blake, als sie uns auf einem handtuchschmalen, gewundenen Pfad durch die Wacholderbüsche führte. Wenn man sie mit jugendlicher Kraft über den Pfad huschen sah, konnte man kaum glauben, dass seit ihrer Ankunft fast 20 Jahre vergangen waren. Jenni hat mit ihren 38 Jahren immer noch die blonden Zöpfe, reizenden blauen Augen und die mageren, von der Sonne gebräunten Gliedmaßen einer Studienanfängerin, die ihre Sommerferien genießt. Seltsamerweise wirkt sie heute eher wie eine sorglose junge Frau als damals.
»Am College litt ich unter Bulimie und hatte ein fürchterliches Selbstbild, bis ich hier draußen zu mir selbst fand«, sagte Jenni. Sie kam im Sommer als freiwillige Helferin, und man drückte ihr umgehend eine Holzfällersäge und Proviant für zwei Wochen in die Hand und wies ihr den Weg in die Einöde, wo sie Wanderpfade freiräumen sollte. Unter dem Gewicht des Rucksacks ging sie fast in die Knie, aber sie behielt ihre Zweifel für sich und zog allein los, hinaus in den Wald.
Bei Tagesanbruch zog sie Sportschuhe an und sonst nichts, begann mit langen Waldläufen und ließ sich den nackten Körper von der aufgehenden Sonne wärmen. »Manchmal war ich hier draußen wochenlang allein«, erklärte Jenni. »Niemand sah mich, also lief und lief ich immer weiter. Es war das herrlichste Gefühl, das man sich nur vorstellen kann.« Sie brauchte weder eine Uhr noch eine feste Route. Sie schätzte ihre Geschwindigkeit nach dem Kitzeln des Windes auf ihrer Haut und rannte auf den mit Tannennadeln gepolsterten Pfaden immer weiter, bis Beine und Lunge ihr signalisierten, dass es Zeit war,
Weitere Kostenlose Bücher