Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
auf, sobald rauflustige kleine Grobiane wie etwa Hyänen auf den Plan treten. Ein Gorilla wiederum ist zwar stark genug, um einen fast 2000 Kilo schweren Geländewagen anzuheben, aber dieser Gorilla schafft nur wenig mehr als 30 Kilometer pro Stunde, und derselbe Geländewagen könnte ihn im ersten Gang niederfahren. Und dann gibt es noch Menschen, die Eigenschaften des Gepards und des Gorillas auf sich vereinigen – wir sind langsam und schwächlich.
»Warum sollten wir uns also zu einem schwächeren Lebewesen fortentwickeln und nicht zu einem stärkeren?«, hakte David nach. »Das geschah lange Zeit, bevor wir Waffen herstellen konnten. Wo lag dann der genetische Vorteil?«
Dr. Bramble spielte das Szenario in seinem Kopf durch. Er stellte sich einen Stamm primitiver Hominiden vor, allesamt untersetzte, flinke und kräftige Geschöpfe, die den Kopf aus Sicherheitsgründen unten hielten, wenn sie sich behende von Baum zu Baum schwangen. Eines Tages tritt ein langsamer, magerer, flachbrüstiger Sohn auf, der kaum größer als eine Frau ist und sich durch ungeschütztes Umhergehen im offenen Gelände als Tigerfutter anbietet. Zum Kämpfen ist er zu schwächlich, zum Weglaufen zu langsam, und er ist außerdem zu schwach, um eine Partnerin anzulocken, die ihm Kinder gebiert. Nach aller Wahrscheinlich ist er zum Aussterben bestimmt – aber auf irgendeine Weise wird diese Null zum Stammvater der Menschheit, während seine stärkeren und flinkeren Brüder im Dunkel der Entwicklungsgeschichte verschwinden.
Diese hypothetische Schilderung ist eine ziemlich genaue Wiedergabe des Neanderthaler-Rätsels. Die meisten Menschen halten die Neanderthaler für unsere Vorfahren, aber in Wirklichkeit waren sie eine Parallelspezies (oder, wie manche Experten sagen, eine Subspezies), die mit dem Homo sapiens ums Überleben konkurrierte. »Konkurrierte« ist allerdings eine eher freundliche Umschreibung. Die Neanderthaler waren uns in jeder Hinsicht überlegen. Sie waren stärker, zäher und möglicherweise sogar klüger: Sie hatten kräftigere Muskeln, stärkere Knochen, waren von Natur aus besser gegen Kälte geschützt und hatten, das legen die Fossilienfunde nahe, ein größeres Gehirn. Die Neanderthaler waren unglaublich begabte Jäger und geschickte Waffenhersteller, und es ist denkbar, dass sie noch vor uns eine Sprache entwickelten. Beim Rennen um die Herrschaft über diese Welt hatten sie einen gewaltigen Vorsprung. Die Neanderthaler hatten sich, als die ersten Exemplare des Homo sapiens in Europa auftauchten, dort bereits seit fast 200 000 Jahren gut etabliert. Wenn man beim »Last Man Standing«-Wettbewerb zwischen den Neanderthalern und unserer Frühversion wählen müsste, würde man unbedingt für die Neanderthaler stimmen.
Und wo sind sie dann?
Innerhalb von 10 000 Jahren nach der Ankunft des Homo sapiens in Europa waren die Neanderthaler verschwunden. Niemand weiß, wie das geschah. Die einzige Erklärung besteht darin, dass irgendein rätselhafter, unbekannter Einflussfaktor uns – den schwächeren, dümmeren, magereren Geschöpfen – einen über Leben und Tod entscheidenden Vorteil gegenüber den All Stars der Eiszeit verschaffte. Es war nicht die Körperkraft. Es waren nicht die Waffen. Es war nicht die Intelligenz.
Könnten es die läuferischen Fähigkeiten gewesen sein?, fragte sich Dr. Bramble. Ist David da vielleicht einer wichtigen Sache auf der Spur?
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden: die Untersuchung von Knochen und Körperbau.
»Zunächst empfand ich große Skepsis gegenüber Davids Gedanken, und das aus dem gleichen Grund, den die meisten Morphologen vorbringen würden«, sagte mir Dr. Bramble später. Morphologie ist im Prinzip die Wissenschaft von der zergliedernden Analyse: das Gegenteil dessen, was ein Ingenieur tut. Sie untersucht den Aufbau des menschlichen Körpers und versucht herauszufinden, wie er funktioniert. Morphologen wissen, wonach sie bei einer sich schnell bewegenden Maschine suchen müssen, und der menschliche Körper entsprach in keinerlei Hinsicht den spezifischen Merkmalen. Man musste sich nur unsere Hinterteile ansehen, um das zu begreifen. »In der gesamten Geschichte der Wirbeltiere auf Erden – der gesamten Geschichte – sind die Menschen die einzigen Zweibeiner ohne Schwanz«, sollte Bramble später sagen. Laufen ist nichts anderes als ein kontrollierter Sturz, und wie kann man ohne ein geeignetes Ruder – etwa in der Art eines Känguruschwanzes – die
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