Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Bewegung steuern und verhindern, dass man auf die Nase fällt?
»Diese Überlegung führte dazu, dass ich, wie andere Wissenschaftler auch, den Gedanken verwarf, die Menschen hätten sich als laufende Tiere entwickelt«, sagte Bramble. »Und ich hätte diese Geschichte geglaubt und wäre ein Skeptiker geblieben, wenn ich nicht auch eine paläontologische Ausbildung hätte.«
Dr. Brambles zusätzliche Fachkenntnisse in Fossilienkunde ermöglichten ihm vergleichende Überlegungen zu der Frage, wie der Bauplan des menschlichen Körpers im Lauf der Jahrtausende verändert worden war, auch im Vergleich zu anderen Körperformen. Und sofort entdeckte er Dinge, die nicht ins gängige Bild passten. »Ich konzentrierte mich auf die Anomalien anstatt mir, wie die meisten Morphologen, die konventionelle Liste vorzunehmen und dort die Dinge abzuhaken, die ich zu sehen erwartete«, sagte Bramble. »Mit anderen Worten, die Frage lautete: Was gibt es da, was es eigentlich gar nicht geben sollte?« Er setzte an, indem er das Tierreich in zwei Kategorien aufteilte: Läufer und Spaziergänger. Zu den Läufern zählen Pferde und Hunde; Schweine und Schimpansen sind dagegen typische Spaziergänger. Wären Menschen dazu bestimmt, die meiste Zeit zu gehen und nur in Notfällen zu laufen, sollte unser Bewegungsapparat dem Körperbau anderer Spaziergänger ziemlich ähnlich sein.
Gewöhnliche Schimpansen waren ein perfekter Ausgangspunkt für eine solche Untersuchung. Sie sind nicht nur ein klassisches Beispiel für ein Spaziergängertier, sondern auch unsere engsten lebenden Verwandten. Nach über sechs Millionen Jahren getrennter Evolution sind nach wie vor 95 Prozent unserer DNS-Sequenzen mit dem Erbgut von Schimpansen identisch. Nicht gemeinsam haben wir jedoch, so stellte Bramble fest, eine Achillessehne, die die Wade mit der Ferse verbindet. Wir haben eine, die Schimpansen nicht. Und wir haben sehr unterschiedliche Füße: Unsere sind gewölbt, die der Schimpansen platt. Unsere Zehen sind kurz und gerade, was beim Laufen hilfreich ist, während die der Schimpansen lang und gespreizt sind, was fürs Gehen viel besser ist. Und man sehe sich einmal die Hinterteile an: Wir haben einen kräftigen großen Gesäßmuskel, beim Schimpansen dagegen ist er sehr schwach ausgebildet. Dr. Bramble konzentrierte sich dann auf ein wenig bekanntes, hinter dem Kopf ansetzendes Band, das sogenannte Nackenband (Ligamentum nuchae). Schimpansen haben kein Nackenband. Schweine auch nicht. Und wer hat wohl eins? Hunde. Pferde. Und Menschen.
Das war jetzt verblüffend. Das Nackenband dient ausschließlich der Stabilisierung des Kopfes, und zwar wenn sich ein Tier schnell bewegt. Wer ein Spaziergänger ist, braucht es nicht. Große Hinterteile braucht man nur zum Laufen. (Prüfen Sie das selbst: Gehen Sie eine Zeit lang im Zimmer herum und fassen Sie sich dabei an den Hintern. Er wird weich und fleischig bleiben und erst dann angespannt, wenn Sie zu laufen anfangen. Die Aufgabe Ihres Hinterns besteht darin, zu verhindern, dass die vom Oberkörper ausgehende Bewegungsenergie Sie auf die Nase fallen lässt.) Die Achillessehne wiederum wird beim Gehen nicht gebraucht, deshalb haben die Schimpansen auch keine. Dasselbe galt für den Australopithecus, unseren teilweise noch menschenaffenartigen Hominiden-Vorfahren, der vor vier Millionen Jahren lebte. Die ersten Nachweise für eine Achillessehne erscheinen entwicklungsgeschichtlich erst zwei Millionen Jahre später, beim Homo erectus.
Dr. Bramble sah sich dann die Schädel genauer an, und es überkam ihn wie ein Schock. Heiliger Bimbam!, dachte er. Hier wird etwas geboten . Der Australopithecus-Schädel war glatt, aber als er Homo erectus prüfte, fand er eine flache Vertiefung, den Ansatzpunkt für ein Nackenband. Eine rätselhafte, aber unabweisbare Zeitleiste nahm Gestalt an: Der menschliche Körper übernahm, im Rahmen der Veränderungen über einen langen Zeitraum hinweg, wesentliche Merkmale eines schnell laufenden Tieres.
Seltsam, dachte Bramble. Wie ist es möglich, dass wir all diese spezialisierten Läufermerkmale entwickelt haben, und andere Fußgänger nicht? Eine Achillessehne wäre für ein Tier, das sich gehend fortbewegt, nur eine Belastung. Die Fortbewegung auf zwei Beinen ist wie das Gehen auf Stelzen. Man setzt seinen Fuß auf die Erde, bringt den Körperschwerpunkt über das Bein und wiederholt dann diesen Ablauf. Das Letzte, was man dafür bräuchte, wären elastische, wacklige Bänder, die
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