Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
direkt an der Stützfläche ansetzten. Die einzige Aufgabe der Achillessehne besteht darin, dass sie sich dehnt wie ein Gummiband …
Ein Gummiband! Dr. Bramble empfand Stolz und Verlegenheit zugleich. Gummibänder … So weit war er gewesen, hatte sich an die Brust geklopft, weil er nicht wie all die anderen Morphologen war, die »die Dinge abhaken, die sie zu sehen erwarten«, dabei hatte er sich die ganze Zeit genauso kurzsichtig verhalten; an den Gummibandfaktor hatte er nicht einmal gedacht. Als David anfing, vom Laufen zu sprechen, nahm Dr. Bramble an, er meine Geschwindigkeit. Es gibt aber zwei Arten von großartigen Läufern: Sprinter und Langstreckler. Vielleicht ging es beim menschlichen Laufen in erster Linie ums lange und weniger ums schnelle Laufen. Das würde erklären, warum unsere Füße und Beine so dicht mit elastischen Bändern bestückt sind – weil elastische Bänder Energie erhalten und zurückgeben, so wie die Gummibandpropeller an Balsaholz-Modellflugzeugen. Je stärker man das Gummiband verdreht, desto weiter fliegt das Flugzeug. Genauso gilt: Je weiter man die Bänder dehnen kann, desto mehr freie Energie erhält man, wenn sich das Bein streckt und nach hinten schwingt.
Und wenn ich eine Langstreckenlauf-Maschine konstruieren würde, dachte Dr. Bramble, dann würde ich sie genau damit ausstatten – mit einer Menge Gummibänder, um die Ausdauerleistung zu maximieren. Laufen ist wirklich nichts anderes als ein Springen, ein Hüpfen von einem Fuß zum andern. Sehnen sind fürs Gehen irrelevant, aber für ein energiesparendes Abspringen leisten sie Großartiges. Geschwindigkeit kann also vernachlässigt werden. Vielleicht waren wir dazu bestimmt, die besten Langstreckenläufer der Welt zu sein.
»Man muss sich wirklich fragen, warum nur eine Spezies auf der Welt den Drang verspürt, sich bei großer Hitze zu Zehntausenden zu versammeln, um nur zum Spaß zweiundvierzig Kilometer zu laufen«, grübelte Dr. Bramble. »Der Freizeitsport hat seine Ursachen.«
Gemeinsam machten sich Dr. Bramble und David Carrier daran, ihr »Größter-Langstreckenläufer-der-Welt«-Modell auf den Prüfstand zu stellen. Schon bald wimmelte es nur so von entsprechenden Indizien, selbst dort, wo sie nicht direkt suchten. Eine ihrer ersten großen Entdeckungen ergab sich zufällig, als David gemeinsam mit einem Pferd lief. »Wir wollten ein Pferd filmen, um zu sehen, wie Gangart und Atmung zusammenwirkten«, sagt Dr. Bramble. »Jemand musste aufpassen, dass sich das Geschirr nicht verwickelte, also lief David nebenher.« Als sie das Videoband laufen ließen, wirkte irgendetwas merkwürdig, obwohl Bramble zunächst noch nicht sagen konnte, was. Er musste das Band ein paarmal zurückspulen, bevor es ihm aufging: David und das Pferd hatten zwar das gleiche Tempo, aber Davids Beine bewegten sich langsamer.
»Es war erstaunlich«, erklärt Dr. Bramble. »Das Pferd hat zwar längere Beine, und dann gleich vier davon, aber David hatte die größere Schrittlänge.« Für einen Wissenschaftler war David in hervorragender Form, aber als mittelgroßer, mittelschwerer, sich inmitten des Gesamtfeldes bewegender Läufer war er absolut durchschnittlich veranlagt. Es blieb nur eine Erklärung übrig: Der Durchschnittsmensch hat einen längeren Schritt als ein Pferd, so bizarr das auch klingen mochte. Es sieht ganz danach aus, als würde das Pferd Riesensätze nach vorn machen, aber die Hufe schwingen bereits nach hinten, bevor sie den Boden berühren. Das Ergebnis: Obwohl die in biomechanischer Hinsicht ruhig daherkommenden menschlichen Läufer kurze Schritte machen, legen sie mit jedem Schritt dennoch eine größere Entfernung zurück als ein Pferd, was ihren Laufstil effizienter macht. Mit anderen Worten: Ein Mensch kann, mit der gleichen Treibstoffmenge im Tank, theoretisch weiter laufen als ein Pferd.
Aber warum soll man sich mit der reinen Theorie begnügen, wenn man sie einem Praxistest aussetzen kann? Jedes Jahr im Oktober treten in Prescott im US-Bundesstaat Arizona einige Dutzend Läufer und Reiter zu einem 80 Kilometer langen Rennen Mensch gegen Pferd (»Man Against Horse«) an. Ein Lokalmatador namens Paul Bonnet überholte im Jahr 1999 die führenden Pferde am steilen Anstieg hinauf zum Mingus Mountain und sah sie nicht mehr wieder, bis er die Ziellinie überquert hatte. Im darauf folgenden Jahr eröffnete Dennis Poolheco eine bemerkenswerte Siegesserie: Sechsmal nacheinander ließ er das gesamte Feld hinter sich,
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