Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Persönlichkeit war verändert: Die Nörgelei und das hitzige Temperament, die ich als Teil meiner irisch-italienischen Erbmasse betrachtete, hatten so sehr abgenommen, dass meine Frau erklärte: »Hey, wenn das vom Ultralangstreckenlaufen kommt, binde ich dir sogar noch die Schuhe.« Ich wusste, dass Ausdauertraining ein sehr wirkungsvolles Antidepressivum war, aber mir war nicht klar gewesen, dass es die Gemütslage so gründlich stabilisieren und – ich hasse es, dieses Wort zu gebrauchen – so meditativ sein konnte. Wenn man nach einem vierstündigen Lauf keine Antworten auf die eigenen Probleme weiß, dann gibt es auch keine.
Ich wartete immer noch darauf, dass sich die alten Gespenster aus der Vergangenheit wieder zeigten – die brüllende Achillessehne, die lädierte Kniesehne, die Plantarsehnenentzündung. Auf die längeren Läufe nahm ich jetzt mein Handy mit, weil ich davon überzeugt war, dass ich jederzeit als humpelndes Häuflein Elend am Straßenrand enden konnte. Sobald ich auch nur ein leises Symptom zu spüren glaubte, ging ich meine Diagnoseschritte durch:
Ist der Rücken gerade? In Ordnung.
Knie gebeugt und vorwärtstreibend? In Ordnung.
Schnellen die Fersen nach hinten? … Da steckt das Problem. Nach erfolgter Korrektur entspannte sich der Problempunkt und verschwand schließlich ganz. Als mich Eric im letzten Monat vor dem Rennen auf fünfstündige Läufe schickte, waren die Gespenster und das Handy vergessen.
Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich superlangen Läufen nicht mit Furcht, sondern mit Erwartung entgegen. Wie hatte Barfuß-Ted sich ausgedrückt? Wie Fische, die ins Wasser zurückgleiten . Genau. Ich fühlte mich, als wäre ich zum Laufen geboren.
Und nach der Ansicht dreier eigenwilliger Wissenschaftler war ich das auch.
28
20 Jahre zuvor betrachtete ein junger Wissenschaftler in einem winzigen Kellerlabor einen Kadaver und sah dabei seinem Schicksal ins Auge.
David Carrier war damals noch ein Undergraduate-Student an der Universität von Utah. Er grübelte über dem Kadaver eines Hasen und versuchte herauszufinden, was es mit diesen knöchernen Dingern direkt über dem Hinterteil auf sich hatte. Sie reizten seine Neugier, weil sie eigentlich nicht dort sein sollten. David war der beste Student in Professor Dennis Brambles Evolutionsbiologie-Seminar, und er wusste genau, was er zu sehen bekam, wenn er den Bauch eines Säugetiers aufschnitt. Diese großen Bauchmuskeln auf dem Zwerchfell? Sie mussten an etwas Kräftigem verankert sein, damit sie die Verbindung zu den Lendenwirbeln herstellten, so wie man ein Segel an einem Mastbaum befestigen würde. So verhält es sich bei jedem Säugetier, vom Wal bis zum Wombat – aber offensichtlich nicht bei diesem Hasen. Seine Bauchmuskeln waren, anstatt sich an etwas Stabiles anzuhängen, mit diesen zerbrechlich wirkenden, Hühnerflügeln gleichenden Dingern verbunden.
David prüfte eines davon mit dem Finger. Cool. Es ließ sich wie ein Slinky zusammenschieben und schwang dann wieder zurück. Aber warum brauchte im ganzen Reich der Säugetiere ausgerechnet ein Eselhase einen gefederten Bauch?
»Das brachte mich zu der Frage, was sie beim Rennen tun, wenn sie bei jedem Galoppschritt den Rücken wölben«, erzählte mir Carrier später. »Wenn sie sich mit den Hinterläufen abdrücken, strecken sie den Rücken, und sobald sie auf den Vorderläufen landen, krümmt sich der Rücken dorsal.« Viele Säugetiere biegen ihre Körper auf dieselbe Art, grübelte er. Sogar Wale und Delfine bewegen ihre Schwanzflosse auf und ab, während ein Hai sie hin und her peitscht. »Denken Sie an die spannerraupenartigen Bewegungen von Geparden. Das ist ein klassisches Beispiel«, sagt David.
Gut. Das war gut. David kam weiter. Großkatzen und kleine Hasen rennen auf dieselbe Weise, aber die eine Spezies verfügt über am Zwerchfell installierte Slinkys, die andere nicht. Die eine Art ist schnell, doch die andere muss schneller sein, zumindest für kurze Zeit. Aber warum? Das ist eine einfache Rechnung: Wenn Pumas alle Hasen erwischen würden, gäbe es keine Hasen und letzten Endes auch keine Pumas mehr. Eselhasen kommen mit einem großen Problem auf die Welt: Im Gegensatz zu anderen schnell laufenden Tieren verfügen sie über keine Reserveartillerie. Sie haben weder ein Geweih noch Hörner oder harte Hufe und sind auch nicht im Schutz einer Herde unterwegs. Für Hasen und Kaninchen heißt es immer: alles oder nichts. Entweder sie rennen
Weitere Kostenlose Bücher