Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
wird nach hinten gezogen, dabei wird Luft in die Lungen gesaugt, und …
Klick – jetzt werden die Vorderläufe nach hinten geführt, bis Vorder- und Hinterpfoten sich berühren. Die Wirbelsäule des Gepards krümmt sich, drückt auf den Brustkorb, die Luft wird aus den Lungen gepresst und …
Da hatte man die Erklärung – noch so ein viktorianisch anmutender Apparat, wenn auch mit etwas weniger Turboenergie. Davids Herz klopfte schneller. Luft! In unseren Körpern drehte sich alles ums Luftholen! Wenn man die Denkrichtung umkehrte, wie Dr. Bramble es ihn gelehrt hatte, kam man auf diesen Gedanken: Das Luftholen mag die Entwicklung unserer Körperform bestimmt haben.
Mein Gott, es war so einfach – und so umwerfend. Wenn David recht hatte, dann hatte er soeben das größte Rätsel in der Evolution des Menschen gelöst. Bisher hatte noch niemand die Frage beantwortet, warum sich die ersten menschenähnlichen Wesen vom Rest der Schöpfung abgesetzt hatten, indem sie die vorderen Gliedmaßen hochnahmen und sich aufrichteten. Das geschah wegen der Atmung! Sie wollten ihren Schlund öffnen, den Brustkorb anschwellen lassen und die Atemluft besser aufnehmen können als alle anderen Lebewesen des Planeten.
Aber das war erst der Anfang. David fand schnell heraus: Je besser man atmen kann, desto besser kann man …
»Laufen? Sie sagen, die Menschen entwickelten sich zu Läufern?«
Dr. Dennis Bramble hörte interessiert zu, als David Carrier seine Theorie erklärte. Dann nahm er beiläufig Maß und zerlegte sie ganz und gar. Er versuchte dabei schonend vorzugehen. David war ein brillanter Student und ein wirklich origineller Denker, aber diesmal, so vermutete Bramble, war er dem in der Wissenschaft am weitesten verbreiteten Fehler zum Opfer gefallen: Hat man praktischerweise gerade einen Hammer in der Hand, kommt einem alles, was man sieht, wie ein Nagel vor (weshalb auch vom »Handy Hammer Syndrome« gesprochen wird).
Dr. Bramble wusste auch ein bisschen über Davids Leben jenseits der Lehrveranstaltungen Bescheid, deshalb war ihm auch bekannt, dass sein Schützling an schönen Frühlingsnachmittagen die Labors gern hinter sich ließ und zu Läufen in die Wasatchberge aufbrach, die sich unmittelbar hinter dem Campus der Universität von Utah erheben. Dr. Bramble war ebenfalls ein Läufer, deshalb verstand er auch die Anziehungskraft dieser Beschäftigung, aber mit solchen Dingen musste man vorsichtig sein. Das größte Berufsrisiko eines Biologen war – gleich nach verliebten Gefühlen für Forschungsassistentinnen – die Gefahr, ganz in den eigenen Hobbys aufzugehen. Man wird dabei zum Versuchsobjekt in eigener Sache, sieht die Welt als Spiegelung des eigenen Lebens und das eigene Leben als Bezugspunkt für nahezu jedes denkbare Phänomen auf dieser Welt.
»David«, setzte Dr. Bramble an. »Spezies entwickeln sich durch das, was sie gut können, nicht durch das, was sie nicht so gut beherrschen. Und zum Laufen sind Menschen nicht nur schlecht geeignet – wir sind miserabel.« Für diese Feststellung musste man sich nicht einmal mit Biologie beschäftigen. Man konnte sich einfach nur Autos und Motorräder ansehen. Vier Räder sind schneller als zwei, denn sobald man sich aufrichtet, verliert man an Schubkraft, Stabilität und Aerodynamik. Dann übertrage man dieses Bauprinzip auf Tiere. Ein Tiger ist drei Meter lang, und seine Gestalt gleicht einem Marschflugkörper. Er ist der Drag Racer des Dschungels, während sich die Menschen auf ihren dünnen Beinen, mit winzigen Schritten und jämmerlichen Luftwiderstandswerten mühsam fortbewegen müssen.
»Ja, ich habe verstanden«, sagte David. Als wir die aufrechte Körperhaltung annahmen, ging alles zum Teufel. Wir verloren an Geschwindigkeit, der Oberkörper büßte Kraft ein …
Guter Junge, dachte Bramble. Er lernt schnell .
Aber David hatte mit diesem Thema noch nicht abgeschlossen. Warum, so fuhr er fort, sollten wir gleichzeitig auf Stärke und Geschwindigkeit verzichten? Dann hätten wir nicht mehr laufen, nicht mehr kämpfen und nicht mehr klettern und uns in Baumkronen verstecken können. Wir wären ausgelöscht worden – es sei denn, wir hätten im Gegenzug etwas ziemlich Erstaunliches erworben. Nicht wahr?
Das, so musste Dr. Bramble einräumen, war eine verdammt kluge Art zu fragen. Geparde sind schnell, aber schwächlich; sie müssen tagsüber jagen, um nachtaktiven Räubern wie Löwen und Panthern aus dem Weg zu gehen, und sie geben ihre Beute
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