Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
überrascht, als er feststellte, dass das Rennen seine Erwartungen übertroffen hatte und sich zum Ultimate-Fighting-Wettkampf der Untergrund-Ultralangstreckler entwickelte. Während der letzten beiden Tage waren Tarahumara-Läufer, allein oder zu zweit, aus allen Himmelsrichtungen aufgetaucht. Am ersten Morgen nach unserer Bergtour, die uns aus Batopilas hierher geführt hatte, sahen wir beim Aufstehen, wie eine Gruppe in der Nähe wohnender Tarahumara von den umliegenden Bergen ins Dorf hinunterstieg. Caballo war sich gar nicht sicher gewesen, ob die Tarahumara von Urique immer noch die Lauftradition pflegten. Er hatte vielmehr befürchtet, dass die Verbesserung des Straßenbelags durch Baumaßnahmen der Regierung diese Leute – ähnlich wie im tragischen Fall der Tarahumara von Yerbabuena – vom Laufen abgebracht und aus Läufern Anhalter gemacht hatte. Sie sahen ganz gewiss wie ein Volk im Umbruch aus. Die Tarahumara von Urique trugen zwar immer noch hölzerne palia -Stöcke bei sich (ihre Version des Ballspielrennens ähnelte mehr einem Hochgeschwindigkeits-Feldhockey), aber die traditionellen weißen Lendentücher und Sandalen waren durch Laufshorts und Sportschuhe ersetzt worden, die sie von der Katholischen Mission erhalten hatten.
Noch am Nachmittag desselben Tages war Caballo überglücklich, als er einen 51-jährigen Mann namens Herbolisto erspähte, der aus Chinivo herbeigelaufen und dabei von Nacho begleitet worden war, einem 41 Jahre alten Meisterläufer aus einem Nachbardorf. Herbolisto war, wie Caballo befürchtet hatte, von der Grippe heimgesucht worden. Aber er war einer seiner ältesten Freunde unter den Tarahumara und wollte bei diesem Rennen unbedingt dabeisein. Sobald es ihm etwas besser ging, schnappte er sich einen Pinole-Beutel, machte sich zunächst allein auf den 100 Kilometer weiten Weg und hielt unterwegs noch bei Nacho an, um ihn zu diesem Spaß einzuladen.
Am Vorabend des Renntages hatte sich unsere Zahl mehr als verdreifacht, von acht auf 25 Läufer. Überall auf der Hauptstraße des Orts wurde die Frage heiß diskutiert, wer jetzt der wahre Favorit sei: War es Caballo Blanco, der verschlagene Veteran, der sich die Geheimnisse der amerikanischen wie auch der Tarahumara-Läufer angeeignet hatte? Waren es die Tarahumara von Urique, die Ortskundigen auf hiesigen Pfaden, die auch noch den Stolz und die Unterstützung ihres Heimatorts auf ihrer Seite hatten? Etwas Geld wurde auch auf Billy Bonehead gesetzt, den Jungen Wolf, dessen Surfergott-Körperbau bewundernde Blicke anzog, wenn er im Urique-Fluss schwamm. Aber der heftigste Debattenlärm war zu annähernd gleichen Teilen den beiden Stars gewidmet: Arnulfo, dem König der Copper Canyons, und El Venado, seinem geheimnisvollen ausländischen Herausforderer.
»Sí, Señor«, antwortete ich dem Ladenbesitzer. »Arnulfo hat ein Hundert-Kilometer-Rennen dreimal gewonnen. Aber der Hirsch hat ein Hundert- Meilen -Rennen in den Bergen siebenmal gewonnen.«
»Aber hier unten ist es sehr heiß«, erwiderte der Ladenbesitzer. »Den Tarahumara macht das überhaupt nichts aus.«
»Stimmt. Aber der Hirsch gewann im Hochsommer ein fast zweihundertzwanzig Kilometer langes Rennen durch eine Wüste namens Tal des Todes. Bis heute lief niemand dieses Rennen schneller.«
»Niemand besiegt die Tarahumara«, beharrte der Ladenbesitzer.
»Hab ich schon gehört. Auf wen wetten Sie dann?«
Er zuckte mit den Schultern. »Auf den Hirsch.«
Die Bewohner von Urique bewunderten die Tarahumara seit jeher, aber einen Mann wie den großen Gringo mit den leuchtorangefarbenen Schuhen hatten sie noch nicht gesehen. Scott und Arnulfo zu betrachten, wenn sie Seite an Seite liefen, hatte etwas Unheimliches an sich. Scott war den Tarahumara noch nie zuvor begegnet, und Arnulfo hatte seine Lebenswelt noch nie verlassen, aber irgendwie hatten diese beiden Männer, zwischen denen 2000 Jahre unterschiedlicher kultureller Entwicklung standen, denselben Laufstil entwickelt. Sie hatten sich ihrer Kunst von entgegengesetzten Seiten der Geschichte genähert und sich genau in der Mitte getroffen.
Zum ersten Mal sah ich das auf dem Batopilas-Berg, nachdem wir endlich ganz oben angelangt waren und sich der Pfad, der den Gipfelbereich umrundete, abflachte. Arnulfo nutzte das Gipfelplateau, um etwas Tempo zu machen. Scott setzte sich neben ihn. Als der Pfad auf die tiefstehende Sonne zulief, verschwanden die beiden im Lichtschein. Einige Augenblicke lang konnte ich sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher