Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)

stürmten Herbolisto und die Verfolgergruppe heran. Einer nach dem anderen setzten die Männer über Jenn hinweg und verschwanden, ohne sich auch nur nach ihr umzudrehen.
    Die denken wohl: So etwas passiert, wenn man keine Ahnung hat, wie man auf felsigem Untergrund laufen muss, dachte Jenn. Na gut, sie haben recht . Ganz vorsichtig stand sie auf, um die Verletzungen zu begutachten. Ihre Schienbeine sahen wie eine Pizza aus, aber die Kniescheibe war nur geprellt, und das vermeintlich von ihrer Hand tropfende Blut stellte sich als schokoladenartiger Glibber heraus, der von einem geplatzten PowerGel-Päckchen stammte, das sie in ihrer Handflasche verstaut hatte. Jenn ging zunächst vorsichtig ein paar Schritte, dann joggte sie und fühlte sich dabei besser als erwartet. Es ging ihr in der Tat so gut, dass sie am Ende der Gefällstrecke alle Tarahumara, die nach ihrem Sturz über sie hinweggesprungen waren, einholte und ein weiteres Mal hinter sich ließ.
    »BRUJITA!« Die Zuschauer in Urique tobten vor Begeisterung, als Jenn abermals durch das Dorf rannte, blutverschmiert, aber lächelnd, als sie die 32-Kilometer-Marke erreichte. An der Versorgungsstation hielt die »kleine Hexe« kurz an, um ein frisches Gel aus ihrem Proviantbeutel zu kramen, während eine freudetrunkene Mamá Tita mit ihrem Schurz an Jenns blutverschmierten Schienbeinen herumtupfte und dabei immer wieder ausrief: »Cuarto! Estás en cuarto lugar!«
    »Ich bin was? Ein Zimmer?« Jenn war schon wieder halb aus dem Ort heraus, als ihr rudimentäres Spanisch ihr letztlich erschloss, wovon Mamá Tita geredet hatte: Sie lag auf dem vierten Platz. Nur Scott, Arnulfo und Silvino waren immer noch vor ihr, und sie verkleinerte den Abstand Stück für Stück. Caballo hatte ihren Beinamen perfekt gewählt: Zwölf Jahre nach Leadville erlebte »La Bruja« ein eindrucksvolles Comeback.
    Aber nur, wenn sie mit der Hitze fertig wurde. Die Temperatur näherte sich der 38-Grad-Marke, als Jenn den Backofen betrat – den zerklüfteten Anstieg hinauf zur Siedlung Los Alisos, bei dem es ständig auf und ab ging. Der Pfad schmiegte sich an eine steile Felswand, die abfiel, steil anstieg, dann erneut abfiel. Auf diese Weise kamen rund 900 Höhenmeter zusammen. Jeder beliebige Berg im Los-Alisos-Höhenzug gehörte zum Schwierigsten, was Jenn je erlebt hatte, und hier war mindestens ein halbes Dutzend von ihnen aneinandergereiht. Die Hitze, die von der Felswand zurückgeworfen wurde, fühlte sich an, als würde sie ihr die Haut verbrennen, aber sie musste sich eng an der Canyonwand halten, wenn sie nicht über die Kante rutschen und in die Schlucht stürzen wollte.
    Jenn hatte gerade einen Berggipfel erreicht, als sie sich plötzlich gegen die Felsen drücken musste: Arnulfo und Silvino stürmten auf sie zu, Schulter an Schulter. Die Hirschjäger hatten uns alle überrascht. Wir hatten erwartet, dass die Tarahumara Scott den ganzen Tag lang auf den Fersen bleiben würden, um dann zu versuchen, im Endspurt an ihm vorbeizuziehen, doch die Jäger hatten eine frühere Attacke bevorzugt und sich an die Spitze gesetzt.
    Jenn presste den Rücken gegen den heißen Felsen und ließ die beiden vorbei. Noch bevor sie sich fragen konnte, wo Scott war, musste sie schon wieder ausweichen und hatte die Felswand im Rücken. »Scott läuft dieses verdammte Rennen mit der größten Intensität, die ich je bei einem Menschen erlebt habe«, sagte Jenn später. »Er geht in der Bewegung auf, man hört nur ein ›Huh-Huh-Huh-Huh‹. Ich frage mich, ob er mich überhaupt wahrnehmen wird, so vertieft ist er. Dann schaut er auf und brüllt ›Hey, Brujita, yeaaaaah!‹«
    Scott hielt an, um Jenn über den Weg zu informieren, der noch vor ihr lag, und sagte ihr auch, wo sie an diesen Felsen mit Wasserrinnsalen rechnen konnte. Dann fragte er nach Arnulfo und Silvino: Wie groß war ihr Vorsprung? Wie sahen sie aus? Jenn schätzte den Abstand auf etwa drei Minuten und sagte, dass die beiden kräftig Tempo machten.
    »Gut«, nickte Scott. Er klopfte ihr auf den Rücken und rannte los. Jenn sah ihm nach, und dabei fiel ihr auf, dass er ganz am Rand des Weges lief und die Kurven sehr eng anging. Das war ein alter Trick von Marshall Ulrich: Er erschwerte es dem Führenden, den Verfolger mit einem kurzen Blick zurück auszumachen. Arnulfos energischer Ausreißversuch hatte Scott nicht überrascht. Der Hirsch jagte jetzt die Jäger.

    »Besiege nur die Strecke«, sagte ich mir. »Sonst niemanden. Nur die