Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
bestimmt nicht nach den Maßstäben der Tarahumara. Für ein Volk, das am liebsten nicht bemerkt wird, sehen die Tarahumara immer fantastisch aus. Die Männer tragen helle Blusen über einem langen, weißen Tuch, das um die Lenden gebunden und wie ein Rock getragen wird. Die Kleidung wird von einer regenbogenfarbenen Schärpe zusammengehalten und durch ein in passenden Farben gehaltenes Stirnband ergänzt. Tarahumara-Frauen sind noch prachtvoller angezogen, sie tragen Röcke in herrlichen Farben und dazu passende Blusen, und korallenrote Steinhalsketten und -armbänder kontrastieren mit ihrer schönen erdbraunen Haut. Jeder noch so trendig ausgestattete Bergwanderer wird sich unter den Tarahumara garantiert underdressed vorkommen.
Diese Gestalt hier sah selbst nach den Maßstäben sonnengeplagter Goldsucher richtig schäbig aus. Der Mann trug nur schmutzigbraune Chabochi-Shorts, ein Paar Sandalen und eine alte Baseballmütze. Das war alles. Er besaß keinen Rucksack, kein Hemd und offensichtlich auch keinen Proviant, denn als er Ángel gegenübertrat, fragte er in holprigem Spanisch nach agua und schaufelte mit eindeutiger Geste in Richtung Mund – könnte er vielleicht etwas zu essen haben?
»Assag«, antwortete Ángel in der Tarahumara-Sprache und forderte den Neuankömmling mit einer Geste auf, sich zu setzen. Jemand brachte eine Tasse mit pinole, dem Maisbrei der Tarahumara. Der Fremde schlürfte ihn gierig hinunter. Zwischen den Schlucken versuchte er zu kommunizieren. Er pumpte mit den Armen und ließ die Zunge heraushängen wie ein hechelnder Hund.
»¿Corriendo?«, fragte der Lehrer. Bist du gelaufen?
Die Gestalt nickte. »Todo día«, antwortete sie in gebrochenem Spanisch. »Den ganzen Tag lang.«
»¿Por qué?«, fragte Angel. »¿Y a dónde?« Warum? Und wohin?
Die Gestalt hob zu einer langen Geschichte an, die Ángel als künstlerische Darstellung zwar höchst unterhaltsam, vom Inhalt her jedoch kaum verständlich fand. Nach Ángels Eindruck war der einsame Wanderer entweder völlig verrückt oder letztlich gar nicht so einsam. Er behauptete außerdem, einen noch rätselhafteren Verbündeten zu haben, irgendeinen Apachen-Krieger namens Ramón Chingón – »Ray, the Mean Motherfucker«.
»Y tú?«, fragte Ángel. »Wie heißt du?«
»Caballo Blanco«, antwortete der Fremde. Das Weiße Pferd.
»Pues, bueno«, sagte der Lehrer mit einem Schulterzucken. In Ordnung.
Das Weiße Pferd blieb nicht lange. Der Fremde trank etwas Wasser, verschlang eine zweite Tasse mit Pinole, winkte zum Abschied und ging wieder seines Weges. Dabei stampfte und wieherte er wie ein wilder Hengst, was die Kinder amüsierte, die ihm lachend hinterherrannten, bis er wieder in der Wildnis verschwand.
»Caballo Blanco es muy amable«, sagte Ángel am Schluss seines Berichts, »pero un poco raro.« Mit anderen Worten: Das Weiße Pferd ist ein guter Mensch, wenn man’s ein bisschen verrückt mag.
»Glauben Sie, dass er sich immer noch da draußen herumtreibt?«, fragte ich.
»Hombre, claro«, sagte Ángel. »Klar doch, Mann. Er war gestern erst hier. Mit dieser Tasse dort habe ich ihm etwas zu trinken gegeben.«
Ich sah mich um. Keine Tasse zu sehen.
»Die Tasse war auch da«, beharrte Ángel.
Im Lauf der Jahre hatte Ángel mitbekommen, dass Caballo irgendwo am Batopilas-Berg in einer selbstgebauten Hütte hauste. Wenn er sich in Ángels Schule blicken ließ, trug er nur Sandalen und Shorts, ein Hemd (wenn überhaupt), und an seiner Hüfte baumelte, wie bei den Tarahumara, ein Beutel mit getrocknetem Pinole. Wenn er lief, schien er von dem zu leben, was das Land ihm bot, und sich auf korima zu verlassen, den Eckpfeiler der Tarahumara-Kultur.
Korima klingt wie Karma und funktioniert auch genauso, allerdings im Hier und Heute. Es ist eine Pflicht, das, was man erübrigen kann, mit anderen zu teilen, sofort und ohne weitere Erwartungen: Sobald das Geschenk aus der Hand gegeben wird, hat es dem vormaligen Besitzer nie gehört. Die Tarahumara kennen keine Geldwirtschaft, also erledigen sie alles Geschäftliche mithilfe von Korima: Ihr Wirtschaftssystem beruht auf dem Austausch von Gefälligkeiten, der ab und zu durch einen Kessel voll Maisbier ergänzt wird.
Das Weiße Pferd sah nicht wie ein Tarahumara aus, auch in Kleidung und Sprache unterschied er sich von diesem Stamm, doch in einem allgemeineren Sinn gehörte er dazu. Ángel hatte von Tarahumara-Läufern gehört, die Caballos Hütte bei ihren langen Fußreisen durch
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