Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
einen Lehrer so lange bearbeitet hatte, bis der ihn den altersschwachen PC der Schule und deren einzige Einwählverbindung benutzen ließ. Er konnte diesen gut 100 Kilometer langen Hin- und Rückweg nur bei gutem Wetter angehen; sonst riskierte er, auf regennassem Felsgelände in den Tod zu stürzen oder zwischen reißenden Wasserläufen festzusitzen, die nicht zu durchqueren waren. Telefonanschlüsse gab es in Urique erst seit 2002, deshalb war der Wartungsdienst im günstigsten Fall sporadisch. Ein vom langen Geländelauf erschöpfter Caballo musste bei seiner Ankunft in Urique mitunter hören, dass die Leitung schon seit Tagen nicht funktionierte. Einmal verpasste er den Blick in den E-Mail-Briefkasten, weil er von streunenden Wildhunden angegriffen worden war, auf den Abstecher verzichten und sich stattdessen um eine Tollwutimpfung bemühen musste.
Es war für mich immer eine enorme Erleichterung, wenn im Posteingang »Caballo Blanco« auftauchte. Caballo führte ein höchst gefährliches Leben, auch wenn er die Risiken unbekümmert abtat. Jeder Lauf, zu dem er in dieser Umgebung loszog, konnte sein letzter sein. Er glaubte gerne, dass ihn die Drogenkiller als harmlosen »Gringo-Indio« ansahen, aber wer kannte sich schon mit der Gefühlslage der Drogenkiller aus? Außerdem waren da noch diese seltsamen Ohnmachtsanfälle: Hin und wieder wurde Caballo unvermittelt bewusstlos. Unberechenbare Blackouts sind schon dort, wo es Notärzte und Rettungssanitäter gibt, gefährlich genug. Aber dort draußen, in der einsamen Weite der Barrancas, würde ein bewusstloser Caballo nie entdeckt – oder auch nur vermisst. Einmal kam er nur knapp davon, als er bei einem Lauf kurz nach der Ankunft in einem Dorf ohnmächtig wurde. Als er wieder zu sich kam, hatte er einen dicken Verband am Hinterkopf, und sein Haar war blutverkrustet. Wäre er nur eine halbe Stunde früher zu Boden gegangen, hätte er mit einem Schädelbruch irgendwo dort draußen in der Wildnis gelegen.
Der Tod war für ihn allgegenwärtig, selbst wenn er den bewaffneten Drogenhändlern entkam und sein trügerischer Blutdruck ihn nicht im Stich ließ. Er brauchte dazu nur einen falsch eingeschätzten chingoncito auf einem dieser handtuchschmalen Tarahumara-Fußpfade, und von Caballo würde nur das Echo seiner Schreie bleiben, wenn er in der Schlucht verschwand.
Ihn hielt nichts auf. Das Laufen schien das einzige sinnliche Vergnügen seines Lebens zu sein, und er genoss dieses Laufen eher wie eine Feinschmeckermahlzeit und empfand es weniger als körperliches Training. Selbst als seine Hütte von einem Erdrutsch fast zerstört wurde, schob Caballo noch einen Lauf ein, bevor er das Dach über seinem Kopf wieder herrichtete.
Aber im Frühling kam es zur Katastrophe. Ich erhielt diese E-Mail:
hey Amigo, bin nach einem ereignisreichen Lauf und Bergab-Humpeln in Urique angekommen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hab ich mir den linken Knöchel ruiniert. An Schuhe mit dicken Sohlen bin ich nicht mehr gewöhnt. das kommt beim Labern und Schuhetragen heraus, wenn ich versuche, meine leichten Sandalen für schnellere Läufe und Rennen zu schonen! Passierte zehn Meilen vor Urique en la Sierra, wusste, dieses Knacken bedeutete nichts Gutes, musste unter Schmerzen nach Urique hinunterkriechen, weil ich wusste, dass ich keine andere Wahl hatte und den Ort erreichen musste, und mein linker Fuß sieht nach Elefantiasis aus.
Mist. Ich hegte den üblen Verdacht, dass ich an seinem Unfall schuld war. Kurz bevor wir uns in Creel voneinander verabschiedet hatten, war mir aufgefallen, dass seine und meine Füße gleich groß waren, also fischte ich aus meinem Rucksack ein Paar nagelneue Nike-Trailschuhe und schenkte sie Caballo als Dankeschön. Er verknotete die Schnürsenkel, warf sich die Schuhe über die Schulter und meinte, sie könnten ihm im Notfall, wenn seine Sandalen auseinanderfielen, vielleicht noch nützlich sein. Er war zu höflich, um in seinem Unfallbericht darauf hinzuweisen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass er auf meine Schuhe anspielte, als er erwähnte, er sei auf dicken Sohlen unterwegs gewesen, als er sich den Knöchel verstauchte.
In diesem Augenblick wurde ich von heftigen Schuldgefühlen geplagt. Ich schadete Caballo in jeder Hinsicht. Zuerst hatte ich ihm mit diesen Laufschuhen unwissentlich eine Zeitbombe überreicht, und dann hatte ich einen Artikel geschrieben, der seine Marotten etwas zu offen ansprach, um für ihn eine gute Werbung zu
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