Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Sie waren ein seltsames, zugleich aber auch ein seltsam zueinander passendes Paar; Dusty war abenteuerlustig, Scott suchte nach Fluchtmöglichkeiten. Dustys Wettkampfhunger war unersättlich; kurze Zeit nach seinen Siegen bei den nationalen Jugendmeisterschaften im Skilanglauf und bei den regionalen Querfeldeinlauf-Meisterschaften überredete er Scott, gemeinsam mit ihm bei einem 80-Kilometer-Lauf anzutreten, beim Minnesota Voyageur Trail Ultra 50-Mile Footrace. »Tja, ich hab ihn da reingelockt«, sagte Dusty. Scott war noch nie auch nur die Hälfte dieser Distanz gelaufen, verehrte aber Dusty viel zu sehr, um Nein sagen zu können.
Auf halber Strecke verlor Dusty im Matsch einen Schuh. Noch bevor er ihn wieder angezogen hatte, war Scott außer Sichtweite. Er stürmte durch den Wald davon, belegte bei seinem ersten Ultramarathon den zweiten Platz und nahm Dusty mehr als fünf Minuten ab. Was zum Teufel ist denn hier los? , fragte sich Dusty. An jenem Abend klingelte sein Telefon pausenlos. »Die Jungs machten sich alle über mich lustig: ›Du Versager! Jerker hat dich abgehängt!‹«
Scott war nicht weniger überrascht. So hatte all das Elend schließlich einen Sinn, überlegte er. All die Hoffnungslosigkeit, die sich mit der Pflege einer Mutter verband, die niemals wieder gesund werden würde, all die Frustrationen, als er den Quälgeistern nachjagte, die er doch nie zu fassen bekam – das hatte sich in aller Stille zu einer Fähigkeit entwickelt, sich immer noch mehr anstrengen zu können, wenn es immer schlimmer für ihn aussah. Coach Vigil hätte das gerührt. Scott hatte von seinem Ausdauertraining nichts erwartet, und er bekam mehr zurück, als er hätte erhoffen können.
Durch reinen Zufall stolperte Scott über die wirksamste Waffe im Arsenal des Ultralangstrecklers: Man schließt die Ermüdung in die Arme, anstatt sich vor ihr zu ducken. Man lässt sie nicht mehr los. Man lernt sie so gut kennen, dass man sie nicht mehr fürchtet. Lisa Smith-Batchen, die erstaunlich heitere, zwei kleine Pferdeschwänzchen tragende Ultralangstrecklerin aus Idaho, die bei Schneestürmen trainierte, um ein sechstägiges Rennen in der Sahara zu gewinnen, spricht über Erschöpfung, als handele es sich um ein verspieltes Haustier. »Ich mag das Biest«, sagt sie. »Ich freue mich auf seinen Auftritt, denn jedes Mal, wenn es sich zeigt, komme ich besser mit ihm zurecht. Ich bekomme es besser unter Kontrolle.« Sobald das Biest erscheint, weiß Lisa, womit sie es zu tun hat, und macht sich an die Arbeit. Und ist das nicht der wichtigste Grund für einen Lauf durch die Wüste – um ihr Training in die Praxis umzusetzen? Um ein freundliches kleines Gerangel mit dem Biest auszutragen und dabei zu zeigen, wer der Chef ist?
Wenn man das Biest hasst, kann man nicht mit einem Sieg rechnen; die einzige Möglichkeit, etwas wirklich für sich zu gewinnen, ist, es zu lieben, das wird jeder bedeutende Philosoph und Genetiker bestätigen.
Scott würde nie wieder in Dustys Schatten oder im Schatten irgendeines anderen Läufers stehen. »Jeder, der ihn in bergigem Gelände auf den letzten Kilometern eines 160-Kilometer-Rennens so schnell hat laufen sehen, wird ein anderer Mensch sein«, erklärte ein von Ehrfurcht ergriffener Läufer auf Letsrun.com , dem wichtigsten InternetForum für die Laufszene, nachdem er gesehen hatte, wie Scott den Streckenrekord von Western States pulverisierte. Für die Läufer im hinteren Teil des Feldes, die zu langsam waren, um Scott in Aktion zu sehen, war er aus ganz anderen Gründen ein Held. Nach einem siegreich beendeten 160-Kilometer-Rennen sehnte auch Scott sich nach einer warmen Dusche und einem frisch bezogenen Bett. Aber er ging nicht weg, sondern wickelte sich in einen Schlafsack und harrte beim Zieleinlauf aus. Am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch, war Scott immer noch da, feuerte mit heiserer Stimme die Nachzügler an und gab auch noch dem letzten beharrlichen Läufer das Gefühl, dass er nicht allein war.
Im Alter von 31 Jahren war Scott praktisch unbesiegbar. Jedes Jahr im Juni erschien ein frisches Rudel von Herausforderern bei Western States und versuchte ihm seinen Titel zu entreißen, und wenn sie ins Ziel kamen, stand er jedes Mal schon da, in seinen Schlafsack gehüllt. Aber was bedeutete das schon? , fragte sich Scott. Was blieb ihm jetzt, nachdem er diesen Ferrari-Körper kreiert hatte, noch zu tun? Gegen die Stoppuhr zu laufen und gegen die Herausforderer, bis es ihnen endlich
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