Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
sein. Caballo gab sich die allergrößte Mühe, um diesen Plan Wirklichkeit werden zu lassen, und jetzt, nach monatelangen Bemühungen, war ich der einzige, der vielleicht aufkreuzte: der lausige, halblahme Läufer, der ihm den meisten Kummer bereitete.
Durch die Freuden seiner weitschweifigen Läufe hatte sich Caballo gegen die Wahrheit immunisiert, aber als er verletzt und hilflos in Urique lag, holte ihn die Wirklichkeit wieder ein. Man konnte nicht so leben wie er, ohne wie ein Freak auszusehen, und jetzt zahlte er den Preis dafür: Niemand würde ihn ernst nehmen. Er war sich nicht einmal sicher, ob er die Tarahumara soweit bringen konnte, dass sie ihm vertrauten, und sie waren so ziemlich die einzigen Menschen auf der Welt, die ihn überhaupt noch kannten. Was war also der Sinn des Ganzen? Warum jagte er einem Traum nach, den alle Welt nur für einen Witz hielt?
Er hätte lange auf die Antwort warten müssen, wenn er sich nicht den Knöchel verstaucht hätte. Aber wie die Dinge (und er selbst) nun einmal lagen: Er erholte sich immer noch in Urique, als er eine Nachricht von Gott erhielt. Vom einzigen Gott, zu dem er je gebetet hatte.
19
Ich gehe solche Veranstaltungen immer mit sehr hochgesteckten
Zielen an, als ob ich etwas Besonderes vollbringen wollte.
Und dann, nachdem sich die körperliche Verfassung bis zu einem
bestimmten Punkt verschlechtert hat, werden die Ziele nach
unten korrigiert, bis ich im Wesentlichen da angekommen bin,
wo ich mich jetzt befinde – wo das Beste, was ich erhoffen kann,
darin besteht, dass ich vermeide, mir auf die Schuhe zu kotzen.
Der Ingenieur für Nukleartechnik und Ultralangstreckenläufer Ephraim Romesberg nach 65 Meilen (105 Kilometern) beim Badwater Ultramarathon
Amerikas größter Ultralangstreckenläufer musste sich einige Tage zuvor in der winzigen Wohnung in Seattle, in der er mit seiner Frau und einer Menge Siegertrophäen lebte, ebenfalls mit seinen körperlichen Grenzen auseinandersetzen.
Dieser Körper sah immer noch großartig aus; ganz bestimmt gut genug, damit sich die Frauen nach ihm umdrehten, wann immer Scott Jurek und Leah, seine gertenschlanke blonde Ehefrau, mit dem Fahrrad durch ihren heimischen Stadtteil Capitol Hill fuhren, in Buchläden schmökerten oder in Cafés und ihr bevorzugtes Veganer-Thai-Restaurant gingen. Sie waren ein schönes junges Hipster-Paar auf Mountainbikes, die sie einem Auto vorzogen. Scott war ein großer Mann mit geschmeidigen Muskeln, gefühlvollen braunen Augen und Boygroup-Lächeln. Er hatte die Haare wachsen lassen, seit ihm Leah vor seinem ersten Sieg beim Western States einen Kurzhaarschnitt verpasst hatte. Sechs Jahre später trug er Locken wie ein griechischer Gott, die ihn umspielten, wenn er lief.
Die Wandlung des schlaksigen Außenseiters mit dem Spitznamen »Jerker« zum Ultralangstrecken-Star stellt die Menschen, die ihn noch als Jugendlichen in seinem Heimatort Proctor in Minnesota kannten, bis heute vor ein Rätsel. »Wir schikanierten ihn nach Strich und Faden«, sagte Dusty Olson, der einstige Sportstar von Proctor, über die Zeit, als er selbst und Scott noch Teenager waren. Bei Querfeldeinläufen bewarfen Dusty und seine Kumpane Scott mit Dreck und liefen ihm dann davon. »Er holte uns nie ein«, sagte Dusty. »Niemand verstand, warum er so langsam war, weil Jerker härter trainierte als alle anderen.«
Es war nun keineswegs so, dass Scott für sein Training viel Zeit gehabt hätte. Er war noch in der Grundschule, als seine Mutter an Multipler Sklerose erkrankte. Scott war das älteste von drei Kindern, und ihm oblag nach der Schule die Betreuung der Mutter, er putzte das Haus und schleppte das Holz für den Küchenherd, solange sein Vater noch bei der Arbeit war. Viele Jahre später rümpften Ultramarathonveteranen die Nase über Scotts Schreie vor dem Start und die übermütigen Kung-Fu-Sprünge, mit denen er bei den Versorgungsstationen einlief. Aber wer seine Kindheit wie ein Schiffsjunge mit täglicher Schufterei verbracht hat und dabei zusehen musste, wie die eigene Mutter in einem Albtraum an Schmerzen versank, kann mit der Freude, die man empfindet, wenn man alles hinter sich lassen und einfach in die Berge laufen kann, vielleicht nie ganz fertig werden.
Nachdem seine Mutter in ein Pflegeheim gebracht werden musste, war Scott mit öden Nachmittagen und seinem Kummer allein. Glücklicherweise war Dusty genau zu dem Zeitpunkt, als Scott einen Freund brauchte, auf der Suche nach einem Helfer.
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